No S20! Gegen eine Welt der Herrschaft, Ausgrenzung und Kontrolle

Am 20. September treffen sich in Salzburg die Staats- und Regierungschef*innen der EU-Mitgliedsländer. Das Treffen steht unter dem Motto „ein Europa das schützt“. Themen, die auf dem Treffen behandelt werden sollen, sind etwa der „Schutz“ der EU-Außengrenzen, die sogenannte „innere Sicherheit“ und das Thema „Cybersicherheit“. Wie sich unschwer erraten lässt, wird es bei diesem Treffen also darum gehen, den rassistischen Überwachungs- und Repressionsapparat der EU auszubauen und das Projekt der Abschottung voranzubringen.

Wir rufen dazu auf, gegen diese autoritären und rassistischen Entwicklungen in Europa aktiv zu werden. Beteiligt euch an den Protesten gegen das S20-Treffen in Salzburg und tragt den Protest von dort zurück an eure Wohnorte und überall dahin, wo sich Herrschaft, Ausgrenzung und Kontrolle bemerkbar machen!

Für die Demonstration in Salzburg gibt es eine gemeinsame Zuganreise aus München. Treffpunkt dafür ist am 20. September um 08:15 Uhr am Münchner Ostbahnhof (Ausgang Friedensstraße).

Der rassistische Alltag in Deutschland

Wer die Bilder der faschistischen Eskalationen der letzten Tage in Chemnitz gesehen hat, der*die dürfte kaum Zweifel daran haben, welchen Weg die politische Entwicklung in Deutschland derzeit einschlägt. Und doch dürften diese Eskalationen kaum überraschen. Sie reihen sich ein in eine erschreckende Kontinuität pogromartiger Übergriffe auf Geflüchtete, sowie aus Sicht von Neonazis nicht deutsch genug aussehende Menschen, der letzten Jahre.1 Dazu kommen die zahlreichen organisierten2 und zum Teil auch spontanen Übergriffe auf People of Color durch Neonazis und Rassist*innen auch abseits der mobartigen Zusammenrottungen des Volks™. In Deutschland leben und nicht weiß sein ist dieser Tage wieder einmal lebensbedrohlich!

Natürlich kommen die Übergriffe nicht von ungefähr. Sie ereignen sich in einer Gesellschaft, in der die schon immer vorhandenen rassistischen Potenziale der Mehrheitsgesellschaft durch verschiedene gesellschaftliche Akteur*innen kanalisiert und vor allem überhaupt äußerbar gemacht werden. Die Tatsache, dass der Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten niemals ersnthaft bekämpft, sondern bestimmte, besonders offen menschenverachtende Formen des Rassismus bestenfalls geächtet und deren Äußerung damit weitestgehend unterdrückt wurde,3 führt nun, da die Tabus hinsichtlich der Äußerung  jener vormals unterdrückten Rassismen fallen, zu einem gewaltigen Backlash, in dem die deutschen Rassist*innen umso lauter darauf pochen ihre rassistischen und menschenverachtenden Weltanschauungen herauszubrüllen. Im Klima dieser verbalen Enthemmung lassen einige Rassist*innen ihren Worten Taten folgen und werden darin noch durch die Anfeuerungsrufe der Mehrheitsgesellschaft bestärkt.

Denn auch die deutschen Medien haben längst die rechten und rassistischen Narrative einer diffusen Gefahr für die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die wahlweise von Geflüchteten, Muslima*Muslimen, in Deutschland lebenden Ausländer*innen etwa türkischer, griechischer, italienischer oder osteuropäischer Staatsbürgerschaft,4 ebenso wie Migrant*innen und PoC ausgehen soll, übernommen. In der Konsequenz werden menschenverachtende Debatten, wie darüber, ob Menschen in Seenot vor dem Ertrinken gerettet werden sollten oder nicht, geführt, während über die Legitimität von Abschiebungen – auch in Kriegsgebiete – mittlerweile gar ein Konsens zu herrschen scheint.

Extreme Rechte in den europäischen Parlamenten

Rechte Parteien profitieren von dieser Rechtsverschiebung des politischen Diskurses, die ihre Strateg*innen gemeinsam mit vielen anderen gesellschaftlichen Akteur*innen jahrelang befeuert haben. In Deutschland begünstigte diese Diskursverschiebung den Einzug der rechtspopulistischen bis nationalsozialistischen AfD in Landtage, den Bundestag und das Europaparlament seit ihrer Gründung im Jahr 2013. Doch nicht nur die AfD ist ausdruck eines verschärften rassistischen politischen Klimas in Deutschland. Das gesamte Parteinspektrum von der Linken über Grüne, FDP und SPD bis hin zu CDU und CSU ist in den letzten Jahren deutlich nach rechts gerückt. Während getrieben von der CDU/CSU zutiefst rassistische und menschenverachtende Praktiken im Hinblick auf Deutschlands Asylpolitik durch die schwarz-rote Regierung umgesetzt werden, rassistische Gesetze wie die Integrationsgesetze verabschiedet werden, die alle Menschen in Deutschland auf eine weiße, christliche „Leitkultur“ festzulegen versuchen und Abweichungen davon unter Strafe stellen, und eine bislang undenkbare Ausweitung der Befugnisse der Polizei stattfindet, äußern auch Politiker*innen der Linken wie beispielsweise Sarah Wagenknecht Verständnis für deutsche Rassist*innen und fordern von geflüchteten Menschen eine Assimilation an die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft.

Diese Entwicklung ist keineswegs einzigartig in Deutschland. In der gesamten EU lässt sich derzeit ein erstarken rechter politischer Kräfte beobachten. Schon seit 2010 regiert in Ungarn die rechtspopulistische Fidesz und hat derzeit gar eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Für die CSU gilt die Asylpolitik von Regierungschef Viktor Orbán als Vorbild für Deutschland. Immer wieder dringen Berichte von menschenverachtenden Lebensbedingungen unter denen Geflüchtete in Ungarn in Lager eingesperrt werden an die Öffentlichkeit. In Polen regiert seit 2015 die rechtspopulistische PiS mit absoluter Mehrheit. Seitdem wurden zahlreiche autoritäre Gesetze verabschiedet und die Situation für Angehörige von marginalisierten Minderheiten im Land wird immer prekärer. In Frankreich scheiterte der Front National mit Kandidatin Marine Le Pen zwar bei den Präsidentschaftswahlen in der Stichwahl gegen Macron, dennoch führt auch Macron den autoritären Umbau des französischen Staates fort. In Spanien ist die rechtskonservative Partei Partido Popular derzeit stärkste parlamentarische Kraft und in Italien regiert ein seltsames Bündnis aus Rechts- und Linkspopulist*innen zwischen Lega und Fünf-Sterne-Bewegung.

In Österreich regiert seit 2017 eine Koalition aus konservativer ÖVP und rechtspopulistischer FPÖ. Seitdem wurde unter anderem ein rassistisch motiviertes Verhüllungsverbot, das darauf abzielt, das Tragen von Burkas, Niqabs, usw. unter Strafe zu stellen, sowie der 12-Stunden-Tag eingeführt. Angehörige der Regierung pflegen Beziehungen zu extrem rechten Burschenschaften und Neonazis.

Abschottung der EU

Hinsichtlich der Rechtsverschiebung des politischen Koordinatensystems in der ganzen EU ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Regierungen der EU-Staaten seit Jahren versuchen, Fluchtwege in die EU dicht zu machen und die EU so vor allem gegenüber dem nordafrikanischen Kontinent, der arabischen Halbinsel und Südasien abzuschotten. Dabei werden verhältnismäßig sichere Fluchtrouten über Landwege seit Jahren blockiert. Dabei scheut mensch sich auch nicht, schmutzige Deals mit autoritären und faschistischen Regierungen, etwa mit dem türkischen Diktator Erdoğan einzugehen, um zu verhindern, dass Menschen in die EU gelangen. Als Resultat werden Menschen an den EU-Grenzen – innerhalb wie außerhalb – unter menschenfeindlichen Bedingungen in Lagern festgehalten, um sie an einer Flucht in EU-Staaten zu hindern.

Dadurch werden flüchtende Menschen gezwungen, immer gefährlichere Fluchtrouten – etwa über das Mittelmeer – zu wählen. Im Mittelmeer ertrinken derweil tausende Menschen, während die EU-Staaten tatenlos zusehen, ja sogar die Rettung der Menschen durch private Seenotrettungsorganisationen behindern, indem sie diesen das Einlaufen in sichere Häfen verweigern oder diese dort festsetzen!

Schaffen es Flüchtende trotz dieser menschenverachtenden und lebensfeindlichen Abschottungspolitik der EU dennoch, die EU zu erreichen, werden sie dort in Massenunterkünften einquartiert und von der übrigen Bevölkerung getrennt. Während sie dort auf die Entscheidung über ihren Antrag auf Asyl warten, erleben sie vielfach brutale Übergriffe durch die Polizei und rassistische Anfeindungen durch die Gesellschaft. Zahlreiche Geflüchtete werden brutal abgeschoben, teilweise sogar in Kriegsgebiete.

Autoritärer Umbau der EU-Staaten

Zugleich findet in vielen EU-Staaten ein autoritärer Umbau statt: Viele Staaten erfahren eine innere Aufrüstung. Unter dem Deckmantel der sogenannten „Terrrorabwehr“ werden polizeiliche und geheimdienstliche Befugnisse ausgeweitet. In Bayern beispielsweise wurde mit der Neuauflage des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes die Grenze zwischen Polizei und Geheimdiensten aufgeweicht, es wurden Möglichkeiten geschaffen, Menschen auch ohne richterlichen Beschluss präventiv, d.h. auf den Verdacht hin, dass diese etwas planen könnten, in Haft zu nehmen und die Hürden für den Einsatz tödlicher Kampfmittel wie Handgranaten durch die Polizei wurden gesenkt. Das bayerische Polizeiaufgabengesetz gilt dabei als deutschlandweites Vorbild für die Polizeien der Länder.

Die innere Aufrüstung der Staaten dient selbstverständlich dazu, zukünftig besser gegen Minderheiten ebenso wie Oppositionelle vorgehen zu können. Sie ist Bestandteil des Umbaus eines Staates von einer bürgerlichen Demokratie hin zu einem autoritären Staat. Der Unterschied zwischen den beiden Staatsformen liegt vor allem in der Subtilität der Herrschaft und damit in der Wahl der Repressionsmittel. Während der bürgerliche Staat eine gewisse Normierung seiner Bürger*innen und derer die es werden wollen vor allem durch Erziehung erreicht und in den meisten Fällen ohne den Einsatz offensichtlich repressiver Mittel wie Geldstrafen, Gefängnisse, etc. auskommt, setzt ein autoritärer Staat auf genau solche offensichtlich repressive Mittel: Wer nicht spurt, der*die kommt eben ins Gefängnis, muss möglicherweise auch Folter und andere Grausamkeiten ertragen.5

Das bedeutet für all diejenigen, die der gesellschaftlichen Norm nicht genügen und die bereits heute Repression durch den Staat oder die Gesellschaft erfahren eine deutliche Verschärfung ihrer Lebensumstände: Sie müssen mit Gefängnis, Folter und anderen Schikanen rechnen.

Werde Aktiv!

Wir wollen nicht in einer Welt der Herrschaft, Ausgrenzung und Kontrolle leben, sondern kämpfen für ein herrschaftsfreies, solidarisches und selbstorganisiertes Miteinander aller Menschen. Deshalb rufen wir auch dich dazu auf, mit uns gegen die bestehende, rassistische Ordnung ebenso wie gegen eine weitere Verschärfung dieser Zustände zu kämpfen.

Die Proteste gegen den S20-Gipfel in Salzburg sind dabei eine gute Gelegenheit, unser Nichteinverständnis mit der rassistischen Abschottungspolitik der EU zu zeigen. Gemeinsam mit vielen anderen Menschen werden wir zeigen, dass wir auch weiterhin unregierbar bleiben.

Doch es genügt nicht, anlässlich von Gipfeltreffen symbolischen Protest gegen die bestehende Ordnung auf die Straßen zu tragen. Wir halten es für notwendig, unsere radikale Opposition zur herrschenden Ordnung Tag für Tag zum Ausdruck zu bringen. Deshalb organisiert euch, indem ihr euch mit Gleichgesinnten vernetzt, bildet Banden und stört die herrschende Ordnung wo immer ihr nur könnt.

Gegen eine Welt der Herrschaft, Ausgrenzung und Kontrolle!
Für die Anarchie!

Weitere Informationen zu den NoS20!-Protesten

Weitere Informationen zu den NoS20!-Protesten in Salzburg erhaltet ihr auf folgenden Seiten:

Pennplatzbörse in München

Für die Nächte vom 19./20. September und 20./21. September gibt es eine Pennplatzbörse in München. Schreibt an pennengehen_s20@riseup.net

Fußnoten

  1. Eine kurze und keinesfalls abschließende Liste an Beispielen für pogromartige Übergriffe in den letzten Jahren: In Heidenau griff im August 2015 ein extrem rechter Mob Busse an, in denen Geflüchtete zu einer örtlichen Unterkunft transportiert werden sollten. Es kam zu einer Straßenschlacht zwischen Nazis und Polizei. Im Oktober 2015 verhinderte ebenfalls ein extrem rechter Mob die Anreise von Geflüchteten in eine Unterkunft in Chemnitz-Einsiedel. In Clausnitz stoppte ein Mob von rund 100 Personen unter „Wir sind das Volk“-Rufen im Februar 2016 einen Bus voller Geflüchteter. Fast eine Stunde bedrängten sie die völlig verängstigten Insassen des Busses, dann kam die Polizei und führte die Geflüchteten teils im Würgegriff durch den faschistischen Mob in die Unterkunft. In Bautzen griffen im September 2016 rund 80 Neonazis eine Gruppe von 15 bis 20 Jugendlichen of Color an.
  2. Erst kürzlich ging in München der NSU-Prozess zuende. Die erschütternde Bilanz: Der deutsche Staat weigerte sich nicht nur, eine angemessene Aufarbeitung der zehn bekannten Morde des NSU-Netzwerks vorzulegen, sondern deckt auch weiterhin zahlreiche Angehörige eines rechtsterroristischen Netzwerks. Schlimmer noch: staatliche Behörden sind tief in dieses Netzwerk verstrickt: Die NSU-Morde geschahen unter Aufsicht des Staates!
  3. Weitestgehend. Denn wer schon einmal gezwungen war, einem Dorffest, einer Familienfeier einer vorwiegend weißen Familie oder einer Betriebsfeier beizuwohnen, der*die weiß, dass spätestens wenn der Alkohol die Zunge rassistischer Deutscher gelockert hat, zwischen dem gelallten „Noch ein Bier bitte“ und sexistischen Anzüglichkeiten genügend Raum für menschenverachtende, rassistische Äußerungen bleibt, die nicht selten zur allgemeinen Erheiterung der weißen Anwesenden beitragen.
  4. In Deutschland lebende, weiße Ausländer*innen mit US-amerikanischen, britischen, französischen, österreichischen, schweizerischen oder ähnlichen Staatsbürgerschaften werden von der deutschen Mehrheitsgesellschaft weniger als Gefahr angesehen.
  5. Dass es bereits heute zahlreiche Fälle gibt in denen die Polizei Menschen unerlaubterweise psychisch und physisch foltert und diese Vorkommnisse von Medien und Öffentlichkeit geflissentlich ignoriert werden, zeigt nur, dass auch ein bürgerlicher Staat Gebrauch von solchen Repressionsmitteln macht. Nur eben nicht so häufig.

Gegen Zäune, Mauern und Grenzen: Die Ordnung stören!

Am 25. August findet um 14 Uhr am Europaplatz in München eine Großdemonstration gegen die Kriminalisierung und Verhinderung von Seenotrettung durch die deutsche Regierung und andere EU-Regierungen statt. Anlässlich dessen rufen wir dazu auf, gegen die Abschottungspolitik der EU, den Rechtsruck in Deutschland und anderen EU-Ländern und den Rassismus der deutschen Gesellschaft aktiv zu werden. Ob durch Beteiligung an der Demonstration oder auf andere Art und Weise, Hauptsache ihr leistet Widerstand gegen die rassistische Ordnung in Deutschland und der EU!

Im Mittelmeer sind im Juni dieses Jahres nach Angaben der International Organization for Migration 629 Menschen ertrunken. Das sind mehr Menschen als von Januar bis einschließlich Mai zusammen. Zugleich wird die Arbeit privater Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeerraum durch EU-Staaten unter aktiver Mitwirkung Deutschlands massiv gestört, indem Schiffen das Einlaufen in Häfen verweigert wird, Schiffe in Häfen festgesetzt werden und Crewmitglieder angeklagt werden.

Abschottungspolitik der EU

Hinter dieser Praxis steckt eine politische Agenda: Sie ist Teil der Abschottungspolitik der EU. Weil sich viele Menschen genötigt sehen über das Mittelmeer nach Europa zu flüchten – vor allem deshalb, weil die EU und ihre Staaten sichere Fluchtwege blockieren – versucht mensch nun auch eine Flucht nach Europa über das Mittelmeer zu unterbinden, nötigenfalls auch zum Preis von Tausenden Ertrunkenen!

Doch die Abschottungspolitik der EU kennt neben der Verhinderung von Seenotrettung im Mittelmeer noch zahlreiche weitere menschenverachtende Praktiken, mit denen versucht wird, Flüchtende Menschen um keinen Preis in die EU zu lassen und diejenigen, denen das dennoch gelungen ist, schnellstmöglich wieder loszuwerden.

Innerhalb wie außerhalb der EU-Grenzen werden flüchtende und geflüchtete Menschen in Lagern eingesperrt und müssen dort in aller Regel unter menschenverachtenden Bedingungen leben. Ziel dieser Lager ist es, Flüchtende außerhalb der EU-Grenzen festzuhalten, bzw. – wenn sie sich innerhalb der EU-Grenzen befinden – möglichst schnell wieder abschieben zu können.

Selbst hier in Deutschland, also weit innerhalb der EU-Grenzen, gibt es zahlreiche Lager deren Ziel die Isolierung Geflüchteter von der übrigen Gesellschaft ist. So ist es einerseits deutlich leichter für die zuständigen Behörden, Personen die abgeschoben werden sollen zu finden, andererseits finden brutale Abschiebepraktiken, die zum Teil mit einem martialischen Polizeiaufgebot einhergehen, sowie auch zahlreiche andere Übergriffe der Polizei auf Geflüchtete abseits der Öffentlichkeit statt. Mit der Einführung sogenannter AnkER-Zentren (Abk. für „Zentrum für Ankunft, Entscheidung, Rückführung“) wird nicht einmal mehr versucht, den Zweck dieser Lager zu verschleiern. Stattdessen wird er bereits im Namen genannt.

Zwischen 20.000 und 25.000 Personen werden jährlich aus Deutschland abgeschoben. Das bedeutet, sie werden gegen ihren Willen in ein anderes Land (zumeist in das Land, aus dem sie geflohen sind) verschleppt. Dafür scheuen Bundes- und Landesregierungen weder Aufwand noch Kosten. So wird eigens für diesen Zweck etwa einmal im Monat ein Flugzeug gechartert. Kosten: Rund 300.000 Euro pro Flugzeug, zuzüglich zehntausender Euro Personalkosten. Und auch die eigenen „Regeln“, die der Staat sich für Abschiebungen gesetzt hat, nämlich nur in „sichere Herkunftsländer“1 abzuschieben, werden konsequent ignoriert, wenn Menschen in Kriegsgebiete abgeschoben werden, beispielsweise nach Afghanistan.

Rechtsruck in Deutschland

Die Politik der Abschottung Europas vor allem gegenüber dem afrikanischen Kontinent, der arabischen Halbinsel und Südasien kommt dabei nicht von ungefähr. Sie ist Teil eines europaweiten gesellschaftlichen Rechtsrucks und einem damit einhergehenden autoritären Umbau der EU-Staaten. In den letzten Jahren ist es in Deutschland, aber auch in vielen anderen EU-Staaten, in denen diese Entwicklung zum Teil sogar noch weiter fortgeschritten ist, einer Reihe rechter Akteur*innen gelungen, an gesellschaftlicher und politischer Relevanz zuzulegen und zahlreiche Menschen, die ihre Ansichten teilen, zu mobilisieren. Diese Entwicklung führte unter anderem zu der Etablierung der AfD als parlamentarische Kraft ab dem Jahr 2013, aber auch zu einer deutlichen Verschiebung der Politik des gesamten Parteinspektrums nach rechts.

Unter der Federführung der CDU/CSU und mit aktiver Beteiligung der SPD wurden in den letzten Jahren mehrere rassistische Gesetze wie die sogenannten „Integrationsgesetze“ verabschiedet. Besonders sticht dabei das bayerische „Integrationsgesetz“ hervor, das von den hier lebenden Menschen unter Androhung von Strafe eine Anpassung an eine imaginierte Norm fordert. Das wirft für viele marginalisierte Minderheiten, darunter nicht nur geflüchtete Menschen, sondern auch Homosexuelle, Trans*-Menschen, politische Oppositionelle, Muslima*Muslime und viele andere, Probleme auf: Sie sollen ihre Identitäten zugunsten einer bayerischen Identität aufgeben, andernfalls können sie gezwungen werden einen „Integrationskurs“ zu belegen.

Beinahe zeitgleich begann auch eine bis heute andauernde Welle der inneren Aufrüstung. Bestes Beispiel: Die derzeitigen Neuauflagen der Polizeigesetze der Länder. Diese räumen polizeilichen Behörden geheimdienstliche Befugnisse ein, erlauben Präventivhaft von sogenannten „Gefährder*innen“, statten die Polizei mit Kriegswaffen wie beispielsweise Handgranaten aus und reduzieren dabei vielfach die bisher notwendigen Hürden zum Einsatz ähnlicher Maßnahmen.

Eingesetzt werden die mit diesen Gesetzen geschaffenen neuen Befugnisse vor allem gegen Geflüchtete. Insgesamt 11 Personen wurden in Bayern seit Einführung der ausgeweiteten Präventivhaft für mehr als zwei Wochen eingesperrt. Bei allen handelte es sich um Geflüchtete. Das ist natürlich kein Zufall. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann wurde in den letzten Jahren nie müde, von einer angeblichen Gefahr, die von Geflüchteten ausgehe, zu fabulieren. Überhaupt sei „islamistischer Terror“ die größte Gefahr für das Land, und zwar deshalb, weil „islamistische Gefährder“ als Geflüchtete über die deutsche Grenze kommen würden. Die Zahl „islamistischer“ Gewalttaten widerspricht dieser Ansicht dagegen deutlich. In dem Land, in dem ein Neonazi-Netzwerk das sich selbst „Nationalsozialistischer Untergrund“ nannte mindestens 10 Morde begehen konnte und dabei vom Verfassungsschutz mit Geld- und Waffen versorgt und gedeckt wurde und wird, während Ermittlungsbehörden und Medien die Opfer verhöhnten, fürchtet mensch sich also vor islamistischem Terror: Herrmann und die CSU betreiben folglich die gleiche rassistische Hetze, die auch von der AfD betrieben wird. Doch sie haben momentan die politische Macht, ihren Rassismus in Gesetzen zu manifestieren.

Folge dieser Politik ist die bewusste Ausgrenzung von Geflüchteten und Migrant*innen, von Muslima*Muslimen und People of Color innerhalb Deutschlands aufgrund von Rassismus. Außerhalb der EU-Grenzen macht sich diese Politik als Politik der Abschottung bemerkbar. Die Folge sind tausende Tote, die auf der Flucht sterben, weil die rassistischen Regierungen der EU verhindern wollen, dass sie die Grenzen überschreiten, hunderttausende Flüchtende, die unter menschenfeindlichen Bedingungen in Lagern innerhalb wie außerhalb der EU leben, sowie zehntausende Tote in den Krisengebieten, aus denen so viele Menschen fliehen, weil es für sie keine Perspektive gibt, eine Flucht in die EU zu wagen. Der Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist tödlich!

Werdet aktiv!

Wir rufen aus diesem Grund dazu auf, gegen die rassistische Ordnung der deutschen Gesellschaft und der EU aktiv zu werden. Unterstützt Flüchtende und Geflüchtete bei ihren Kämpfen für ein Bleiberecht und gegen den Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft, unterstützt die zahlreichen Organisationen, die diese Kämpfe finanziell und personell unterstützen, unterstützt die Seenotrettungsorganisationen, die sich im Mittelmeerraum trotz aller Hürden ganz praktisch für ein Recht auf Leben einsetzen.

Aber all das ist nicht genug, denn auch wenn ihr die Betroffenen bei ihren Kämpfen unterstützt, so bleibt die rassistische Ordnung, die diese Zustände schafft trotz allem bestehen. Wir glauben, dass eine Änderung der Verhältnisse nur gegen die herrschende Ordnung gelingen kann. Deshalb rufen wir auch dazu auf, die Abschottungspolitik Deutschlands und der EU aktiv zu stören und Widerstand gegen die rassistische Ordnung zu leisten. Forderungen an Staat und Regierung werden im Großen und Ganzen immer wirkungslos bleiben, wenn wir uns nicht selbst dazu ermächtigen diese durchzusetzen. Dabei kann es notwendig sein, den Rahmen der Legalität zu sprengen und die Autorität des Staates infrage zu stellen. Das kann beängstigend wirken, doch auch wenn ihr euch der Autorität des Staates im Kleinen erfolgreich widersetzt, werdet ihr sehen, was für ein empowerndes, ja befreiendes Erlebnis das sein kann. Deshalb organisiert euch und leistet gemeinsam Widerstand gegen die rassistische Ordnung um diese unerträglichen Zustände endlich zu beenden!

  1. Die Bezeichnung „sicheres Herkunftsland“ ist ohnehin irreführend: Schließlich gibt es kein Land, das für alle Menschen „sicher“ in dem Sinne, dass deren Rechte dort geachtet werden, ist. In Ländern in denen Frieden herrscht können trotzdem Angehörige von Minderheiten oder politische Gegner*innen verfolgt werden. Zugleich können die Lebensumstände von Menschen in einem Land ebenfalls äußerst prekär sein, obwohl das Land durchschnittlich als verhältnismäßig reich gilt.

Normen überwinden, Staatsherrschaft durchbrechen

Aufruf zur Demonstration „München gegen Polizeigewalt“ am 05. August, 16 Uhr Münchner Freiheit

Polizeigewalt ist in Deutschland für viele Menschen bittere Realität. Für linksradikale Aktivist*innen, Obdachlose, Persons of Color, diejenigen, die von der Gesellschaft als Verbrecher*innen abgestempelt werden, kurz: Für alle diejenigen, die irgendwo am Rand der Gesellschaft stehen. Dabei ist die Polizei längst nicht die einzige Repressionsbehörde des Staates, wenngleich sie für viele Menschen die sichtbarste Instanz darstellt. Justiz, Gefängnisse und Verwaltungsämter sind weitere, explizite Repressionsbehörden des Staates. Sie vervollständigen das Instrumentarium des Staates zur Umerziehung aus der Reihe gefallener Bürger*innen oder derer, die sich anmaßen, sich trotz ihres Nicht-Bürger*innen-Status auf dem Territorium dieses Staates aufzuhalten, um weitere repressive Elemente.

Doch die Tatsache, dass Menschen „umerzogen“ werden müssen, um irgendeiner „Norm“ zu genügen, gibt bereits Hinweise darauf, dass es neben den als solche auftretenden Repressionsbehörden auch internalisierte Strukturen in der Gesellschaft gibt, die überhaupt erst die Grundlage für Repression schaffen. Durch die Familie, den Schulunterricht, die an Universitäten vermittelte Lehre, die in Büros herrschende Ideologie, in den Medien vermittelten Normen und viele weitere Einrichtungen, sogenannte Ideologische Staatsapparate,1 werden den Menschen in einem Staat „Normen“ vermittelt, die sie dann wiederum reproduzieren. So sind repressive Eingriffe des Staates in aller Regel gar nicht notwendig, nur dann, wenn Menschen diesen Normen nicht entsprechen, wird ein Eingreifen der staatlichen Repressionsbehörden notwendig.

Es gibt in unserer Gesellschaft also weitaus mehr repressive Gewalt als nur die der Polizei, die Gesellschaft reproduziert diese Repression in Form der Ideologie ihres Staates selbst und ist nur dort auf die repressiven Organe eben jenes Staates angewiesen, wo Menschen sich zuvor bereits über internalisierte Repressionsstrukturen hinweggesetzt haben. Um diese Menschen dann zurück in die gesellschaftlichen „Normen“ zu pressen bedarf es dann eben solch weitgehender Eingriffe durch den Staat.

Vor diesem Hintergrund lassen sich die bayerischen und deutschen Gesetzesverschärfungen im Zusammenhang mit den Protesten in Hamburg als ein verzweifelter Versuch eines ins Wanken gebrachten Staates deuten, der sich nur noch damit zu helfen vermag, autoritärer zu werden. Aber auch wenn mensch sicherlich unterstellen kann, dass die Proteste in Hamburg gezeigt haben, dass auch ein hochgerüsteter Staat temporär ins Wanken gerät, wenn er von einer großen Menge an Menschen radikal in Frage gestellt wird, wäre es eine gewaltige Überhöhung der Proteste in Hamburg zu sagen, der deutsche Staat befände sich momentan in einer Krise. Die Proteste in Hamburg haben eben auch gezeigt, dass rechte Medien in Deutschland immer noch Diskurshoheit haben.

Die nun eingeleiteten Gesetzesverschärfungen dienen dazu, das Sammelsurium an Repressionsmöglichkeiten zu erweitern und damit vor allem einzuschüchtern. Die Rebellion gegen „Normen“, das Anprangern von Diskriminierungen und die Sichtbarmachung von Brüchen mit diesen „Normen“  ist also auch weiterhin ein wichtiges Element zur Abschaffung des Staates, doch wo der Staat den Konflikt auf eine neue Stufe hebt, müssen auch wir bereit sein, ihm auf dieser Stufe entgegenzutreten.

Der Staat verhindert angemeldete, „legale“ Protestformen? Schön, wir finden andere Wege unseren Protest kund zu tun. Der Staat rüstet auf, um seine Feind*innen rund um die Uhr zu überwachen? Schön, wir finden Wege, diese Überwachung zu umgehen und greifen die Institutionen des Staates an, mit denen er gegen uns vorgeht. Denn für uns ist die Rebellion gegen Herrschaftsverhältnisse mehr als nur ein Angriff auf den Staat. Für uns ist die Rebellion performativer Akt, denn in ihr liegt unser Weg zu individueller Freiheit.

Zugleich jedoch bietet uns die Aufrüstung des Staates auch Möglichkeiten Herrschaft für all diejenigen sichtbar zu machen, denen es bislang nicht gelungen ist, die „Normen“ unserer Gesellschaft zu überwinden. Während es ein langwieriger Prozess ist, internalisierte Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaft aufzuzeigen, gibt uns ein autoritärer Staat die Möglichkeit explizite Herrschaftsverhältnisse, die Asymmetrie der Gewalt und konkrete Fälle der Repression deutlich und ohne jeden Zweifel sichtbar zu machen. Deshalb wollen wir unsere Wut über diese Zustände auf die Straße tragen und anderen ebenso wie uns selbst beweisen: Wir lassen uns nicht einschüchtern.

Nieder mit dem Staat und seinen Institutionen!

05. August, 16 Uhr. Münchner Freiheit.

Dieser Aufruf wurde zuerst veröffentlicht bei différⒶnce muc.

Fußnoten

1 Vgl. Louis Althusser. Ideologie und Ideologische Staatsapparate.

Gegen G20 – Aus Gründen?

Wir teilen den Aufruf „Gegen G20 – Aus Gründen?“ des Projekts différⒶnce muc zu den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg.

Zum G20-Gipfel in Hamburg hat sich vielfältiger Protest angekündigt. Dieser äußert sich nicht nur in den unterschiedlichen Protestformen, die von klassischen Gipfelstürmen über Critical Mass Aktionen bis zu einer Blockade des Hafens reichen sollen, sondern gerade in seinen unterschiedlichen Inhalten. In den Inhalten? Wer in den letzten Wochen und Monaten Aufrufe gelesen, Mobi-Videos geschaut oder Veranstaltungen zum Protest gegen den G20-Gipfel besucht hat, wird sich fragen, welche Rolle Inhalte hier eigentlich tatsächlich noch spielen! Mit wenigen Ausnahmen werden in den unterschiedlichen Aufrufen immer wieder die gleichen Phrasen wiederholt: „Die Mächtigen“,1 „die Herrschenden“2 treffen sich, um in den „Hinterzimmern“3 um eine „Neuaufteilung der Welt“4 zu „pokern“,5 liest mensch dort in unterschiedlich stark ausgeprägten Formulierungen. Auch Mobi-Videos sprechen – zugegeben, das ist kein Phänomen der G20-Mobilisierung, sondern ein grundsätzliches Phänomen in der Mobilisierung der radikalen Linken – eine einheitliche Bildersprache: Vermummte Personen, die mit Pyrotechnik und Transparenten für ein Gruppenbild posieren, (männliche) Gangster-Rapper, die entweder selbst vermummt für die Kamera posieren, oder sich mit einer Horde vermummter Personen filmen lassen, oder Videos, die vermummte Personen beim Anbringen von Graffity zeigen. Allesamt Macker-Videos, wie sie für die Mobilisierung der radikalen Linken leider typisch sind.6

Die ARD nahm genau diese Videos als Anlass, um die Proteste gegen G20 zu verunglimpfen und „Linksextreme“ weit über das übliche Maß hinaus zu kriminalisieren. Eigentlich ein amüsanter Effekt, zumal Vermummung und Pyrotechnik diesem Video-Schnipsel zufolge ein eindeutiges Indiz für „Gewalt“ seien.7 Dennoch muss mensch sich fragen, welche Bilder dem Fernsehen da geliefert wurden und inwieweit derartige Bilder der eigenen Sache schaden. Die ARD hat nicht erkannt, dass das eigentliche Problem der gezeigten Szenen nicht in einem Aufruf zur Gewalt liegt, sondern in mackerhaftem Verhalten und dem Identitätsgefühl (das dabei exklusiv wirkt), das mit diesen Videos vermittelt werden soll. Ich möchte hier noch einmal betonen, dass es mir hier nicht darum geht, Darstellungen von Gewalt (die in den von der ARD zitierten Mobivideos allerdings nicht vorkommen), Sachbeschädigungen, usw. im Allgemeinen zu kritisieren, sondern vielmehr darum, für eine differenziertere Darstellung solcher Handlungen und eine weniger identitätsstiftende Vermittlung zu werben.

Nimmt mensch von all den Mobilisierungsvideos einmal all die Propagandavideos autoritärkommunistischer Organisationen, die für eine Diktatur des Proletariats werben, aus,8 bleibt dennoch der Eindruck eines kollektiven Wir-Verständnis zurück. Doch die Bilder dieses „Wir“ bleiben exklusiv: Im Mittelpunkt der Videos stehen (mit wenigen Ausnahmen9) Personen, die vom Betrachter als Cis-männliche Personen wahrgenommen werden, Frauen* bleiben, obwohl das in vermummtem Zustand natürlich schwierig zu unterscheiden ist, aber es geht hier ja um das in den Videos vermittelte Bild,10 die Ausnahme; indem körperliche Auseinandersetzungen mit der Polizei gezeigt oder angedeutet werden, wird vermittelt, dass nur körperlich entsprechend fitte Menschen und auch nur diejenigen, die bereit sind, entsprechende Risiken einzugehen, in der Lage dazu sind, die im Video beworbene Protestform zu wählen.

Das sind alles Probleme, die nicht neu sind, sondern in den meisten Mobilisierungsvideos der radikalen Linken auftreten, nichts desto trotz ist es wichtig, diese auch jetzt, anlässlich des G20-Protests zu benennen! Trotzdem sind diese Probleme hinsichtlich der Darstellung häufig verknüpft mit inhaltlichen Problemen: Auch wenn nun wirklich nicht in jedem Aufruf aufs neue festgestellt werden muss, dass Kapitalismus nun einmal Scheiße ist, entbehren viele der Aufrufe zu G20 jedweder ernstzunehmenden Kapitalismuskritik. Vielmehr werden die bei G20 anwesenden Regierungsvertreter*innen darin mehr oder weniger stark alleine für Kriege, Armut, Umweltzerstörung und den Kapitalismus im Allgemeinen verantwortlich gemacht. Aufrufe wie der des Internationalistischen Blocks nehmen G20 auch zum Anlass, ihrem israelbezogenen Antisemitismus Raum zu verschaffen, wenn sie „Unterstützung des Widerstandes gegen Besatzung und Kolonisierung! Internationale Solidarität mit den Befreiungskämpfen in Palästina und Kurdistan!“11 fordern.

Tatsächlich scheint es schwer, eine Kapitalismuskritik, die den Kapitalismus als ein System, das von allen Menschen, nicht nur von den Regierenden und vermeintlichen Gewinner*innen aufrechterhalten wird und in dem Herrschaft von einem komplexen System mit zahlreichen Rückkopplungen ausgeübt wird und nicht von eine*r uneingeschränkten Machthaber*in, begreift, anlässlich des G20-Gipfels auf die Straße zu tragen, zumindest dann, wenn mensch dabei explizit rechtfertigen möchte, den Gipfel zu stören/zu verhindern. Da ist es auf jeden Fall viel leichter, zu behaupten, Merkel, Trump, Putin, Erdogan und all die anderen Regierungsvertreter*innen seien Schuld an den Problemen des Kapitalismus oder würden wenigstens die Verantwortung für diese tragen. Aber einfacher bedeutet eben nicht richtiger und führt, wie an zahlreichen Aufrufen erkennbar wird, leider zu einer stark verkürzten Kapitalismuskritik.

Einen anderen Weg möchte das Bündnis „Shutdown the logistics of capital“12 gehen. Statt den Ort der G20-Konferenz selbst aufzusuchen, soll der Hamburger Hafen blockiert werden, mit dem Ziel, die Logistik lahm zu legen. Unabhängig davon, welche Bedeutung für den Kapitalismus mensch nun der Logistik einräumt, ist das Ziel also wirtschaftlichen Schaden zu generieren und dabei die Weltbühne, die G20 in Hamburg eröffnet, zu nutzen.

In Hamburg geht es also darum, eigene Positionen, auch solche, die innerhalb der radikalen Linken nur eine Minderheit darstellen, sichtbar werden zu lassen. Es geht darum, eine kritische Distanz zum linken Konsens zu wahren und trotzdem für eigene Positionen zu werben, denn gerade dann, wenn mensch die „Massen“ nicht mittels gefährlicher Propaganda, sondern mithilfe von Inhalten überzeugen möchte, muss der Dialog mit anderen Strömungen der radikalen Linken ebenso wieder aufgenommen werden, wie auch der Dialog mit der Gesellschaft im Allgemeinen. Und nicht zuletzt geht es in Hamburg und bei Veranstaltungen dieser Art im Allgemeinen darum, neue Impulse zu setzen. „Shutdown the logistics of capital“ scheint ein solcher Versuch zu sein, neue Angriffspunkte der kapitalistischen Gesellschaft zu erforschen. Dabei ist letzten Endes fast egal, ob diese Aktionsform funktionieren wird oder nicht, die Idee ist angekommen und in Zukunft werden sich Häfen, Speditionen, der Güter-Schienenverkehr und andere logistische Unternehmen sicher noch besser schützen müssen.

Generell darf nicht vergessen werden, dass G20 nur eine Plattform bietet, um einen Diskurs auch außerhalb der eigenen Strukturen zu führen. Kapitalismus jedoch existiert Tag für Tag für Tag. Und auch wenn das brennende Hamburg sicherlich Anlass für einige schöne Bilder sein wird, darf uns das nicht genügen. Wir wollen die ganze kapitalistische Welt brennen sehen!

Fußnoten

1 Aus dem Aufruf „Colour the red zone
2 Aus dem Aufruf „G20 Entern – Kapitalismus versenken
3 Das attac-Netzwerk spricht anlässlich eines Protests gegen das G20-Digitalministertreffen im April 2017 in Düsseldorf von „Hinterzimmer-Politik“ (Vgl. http://www.attac.de/index.php?id=394&tx_ttnews%5Btt_news%5D=9135).
4 Aus dem Aufruf „G20 Entern – Kapitalismus versenken
5 Aus dem Aufruf „G20 Entern – Kapitalismus versenken
6 Trotzdem: Es gibt Ausnahmen! Und es sind eben jene Ausnahmen, jene Differenzen, die in diesem Aufruf zu G20 für einen selbstbestimmten und inhaltlich verwertbaren Gegenprotest fruchtbar gemacht werden sollen.
7 Vgl. Report Mainz: Wie sich die autonome Szene im Netz radikalisiert
8 Womöglich lohnt es sich, nach G20 eine Analyse zu derartigen Videos und Inhalten und den damit einhergehenden Problematiken zu verfassen, doch implizit sollte eigentlich allen Anarchist*innen klar sein, was hier das Problem ist. Gemeint sind Videos wie die des Revolutionären Aufbaus: G20 – Nieder mit der Weltordnung des Kapitals!.
9 Eine solche Ausnahme, bei der auch die Vermittlung der Botschaft trotz Pyrotechnik und Vermummung, Gruppenfotos und Flash-Mobs weniger exklusiv stattzufinden scheint – womöglich liegt das daran, dass hier das Bild des männlichen Steineschmeißers ebenso aufgebrochen wird, wie die vermeintliche Vermittlung der eigenen Stärke durch Gruppenfotos, wenn mit Konfettikanonen um sich geschossen wird – ist das Mobi-Video der Gruppe GROW zu „Shut down the logistics of capital“ (Vgl. https://shutdown-hamburg.org/index.php/2017/06/27/shut-down-the-logistics-auf-capital/).
10 Die gängigen, in der Öffentlichkeit als männlich* dominiert wahrgenommenen, Verhältnisse von kapitalismuskritischem Protest zu durchbrechen, ist auch ein Anliegen der „Queer-Feministischen Organisierung Gegen den G20-Gipfel„, die mit ihrem FLTI*-Block explizit auch den Protest von FLTI*-Personen sichtbar machen wollen. Dagegen bleiben die fast schon obligatorischen Bekenntnisse der radikalen Linken zum „Feminismus“ dann doch eher wirkungslos!
11 Zitat aus dem Aufruf „Nein zum Gipfel des Kapitals“ des Internationalistischen Blocks. Online zu finden unter https://internationalisten.wordpress.com/. Bündnispartner*innen des Internationalistischen Blocks sind neben „BDS Berlin“ auch weitere Gruppen, die sich Israelbezogenen Antisemitismus zur Hauptaufgabe gemacht haben: F.O.R. Palestine (For One state and Return in Palestine), das Palästinakomitee Stuttgart und das Demokratische Komitee Palästina!
12 Zu finden unter der Adresse https://shutdown-hamburg.org/.