Am 20. September treffen sich in Salzburg die Staats- und Regierungschef*innen der EU-Mitgliedsländer. Das Treffen steht unter dem Motto „ein Europa das schützt“. Themen, die auf dem Treffen behandelt werden sollen, sind etwa der „Schutz“ der EU-Außengrenzen, die sogenannte „innere Sicherheit“ und das Thema „Cybersicherheit“. Wie sich unschwer erraten lässt, wird es bei diesem Treffen also darum gehen, den rassistischen Überwachungs- und Repressionsapparat der EU auszubauen und das Projekt der Abschottung voranzubringen.
Für die Demonstration in Salzburg gibt es eine gemeinsame Zuganreise aus München. Treffpunkt dafür ist am 20. September um 08:15 Uhr am Münchner Ostbahnhof (Ausgang Friedensstraße).
Der rassistische Alltag in Deutschland
Wer die Bilder der faschistischen Eskalationen der letzten Tage in Chemnitz gesehen hat, der*die dürfte kaum Zweifel daran haben, welchen Weg die politische Entwicklung in Deutschland derzeit einschlägt. Und doch dürften diese Eskalationen kaum überraschen. Sie reihen sich ein in eine erschreckende Kontinuität pogromartiger Übergriffe auf Geflüchtete, sowie aus Sicht von Neonazis nicht deutsch genug aussehende Menschen, der letzten Jahre.1 Dazu kommen die zahlreichen organisierten2 und zum Teil auch spontanen Übergriffe auf People of Color durch Neonazis und Rassist*innen auch abseits der mobartigen Zusammenrottungen des Volks™. In Deutschland leben und nicht weiß sein ist dieser Tage wieder einmal lebensbedrohlich!
Natürlich kommen die Übergriffe nicht von ungefähr. Sie ereignen sich in einer Gesellschaft, in der die schon immer vorhandenen rassistischen Potenziale der Mehrheitsgesellschaft durch verschiedene gesellschaftliche Akteur*innen kanalisiert und vor allem überhaupt äußerbar gemacht werden. Die Tatsache, dass der Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten niemals ersnthaft bekämpft, sondern bestimmte, besonders offen menschenverachtende Formen des Rassismus bestenfalls geächtet und deren Äußerung damit weitestgehend unterdrückt wurde,3 führt nun, da die Tabus hinsichtlich der Äußerung jener vormals unterdrückten Rassismen fallen, zu einem gewaltigen Backlash, in dem die deutschen Rassist*innen umso lauter darauf pochen ihre rassistischen und menschenverachtenden Weltanschauungen herauszubrüllen. Im Klima dieser verbalen Enthemmung lassen einige Rassist*innen ihren Worten Taten folgen und werden darin noch durch die Anfeuerungsrufe der Mehrheitsgesellschaft bestärkt.
Denn auch die deutschen Medien haben längst die rechten und rassistischen Narrative einer diffusen Gefahr für die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die wahlweise von Geflüchteten, Muslima*Muslimen, in Deutschland lebenden Ausländer*innen etwa türkischer, griechischer, italienischer oder osteuropäischer Staatsbürgerschaft,4 ebenso wie Migrant*innen und PoC ausgehen soll, übernommen. In der Konsequenz werden menschenverachtende Debatten, wie darüber, ob Menschen in Seenot vor dem Ertrinken gerettet werden sollten oder nicht, geführt, während über die Legitimität von Abschiebungen – auch in Kriegsgebiete – mittlerweile gar ein Konsens zu herrschen scheint.
Extreme Rechte in den europäischen Parlamenten
Rechte Parteien profitieren von dieser Rechtsverschiebung des politischen Diskurses, die ihre Strateg*innen gemeinsam mit vielen anderen gesellschaftlichen Akteur*innen jahrelang befeuert haben. In Deutschland begünstigte diese Diskursverschiebung den Einzug der rechtspopulistischen bis nationalsozialistischen AfD in Landtage, den Bundestag und das Europaparlament seit ihrer Gründung im Jahr 2013. Doch nicht nur die AfD ist ausdruck eines verschärften rassistischen politischen Klimas in Deutschland. Das gesamte Parteinspektrum von der Linken über Grüne, FDP und SPD bis hin zu CDU und CSU ist in den letzten Jahren deutlich nach rechts gerückt. Während getrieben von der CDU/CSU zutiefst rassistische und menschenverachtende Praktiken im Hinblick auf Deutschlands Asylpolitik durch die schwarz-rote Regierung umgesetzt werden, rassistische Gesetze wie die Integrationsgesetze verabschiedet werden, die alle Menschen in Deutschland auf eine weiße, christliche „Leitkultur“ festzulegen versuchen und Abweichungen davon unter Strafe stellen, und eine bislang undenkbare Ausweitung der Befugnisse der Polizei stattfindet, äußern auch Politiker*innen der Linken wie beispielsweise Sarah Wagenknecht Verständnis für deutsche Rassist*innen und fordern von geflüchteten Menschen eine Assimilation an die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft.
Diese Entwicklung ist keineswegs einzigartig in Deutschland. In der gesamten EU lässt sich derzeit ein erstarken rechter politischer Kräfte beobachten. Schon seit 2010 regiert in Ungarn die rechtspopulistische Fidesz und hat derzeit gar eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Für die CSU gilt die Asylpolitik von Regierungschef Viktor Orbán als Vorbild für Deutschland. Immer wieder dringen Berichte von menschenverachtenden Lebensbedingungen unter denen Geflüchtete in Ungarn in Lager eingesperrt werden an die Öffentlichkeit. In Polen regiert seit 2015 die rechtspopulistische PiS mit absoluter Mehrheit. Seitdem wurden zahlreiche autoritäre Gesetze verabschiedet und die Situation für Angehörige von marginalisierten Minderheiten im Land wird immer prekärer. In Frankreich scheiterte der Front National mit Kandidatin Marine Le Pen zwar bei den Präsidentschaftswahlen in der Stichwahl gegen Macron, dennoch führt auch Macron den autoritären Umbau des französischen Staates fort. In Spanien ist die rechtskonservative Partei Partido Popular derzeit stärkste parlamentarische Kraft und in Italien regiert ein seltsames Bündnis aus Rechts- und Linkspopulist*innen zwischen Lega und Fünf-Sterne-Bewegung.
In Österreich regiert seit 2017 eine Koalition aus konservativer ÖVP und rechtspopulistischer FPÖ. Seitdem wurde unter anderem ein rassistisch motiviertes Verhüllungsverbot, das darauf abzielt, das Tragen von Burkas, Niqabs, usw. unter Strafe zu stellen, sowie der 12-Stunden-Tag eingeführt. Angehörige der Regierung pflegen Beziehungen zu extrem rechten Burschenschaften und Neonazis.
Abschottung der EU
Hinsichtlich der Rechtsverschiebung des politischen Koordinatensystems in der ganzen EU ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Regierungen der EU-Staaten seit Jahren versuchen, Fluchtwege in die EU dicht zu machen und die EU so vor allem gegenüber dem nordafrikanischen Kontinent, der arabischen Halbinsel und Südasien abzuschotten. Dabei werden verhältnismäßig sichere Fluchtrouten über Landwege seit Jahren blockiert. Dabei scheut mensch sich auch nicht, schmutzige Deals mit autoritären und faschistischen Regierungen, etwa mit dem türkischen Diktator Erdoğan einzugehen, um zu verhindern, dass Menschen in die EU gelangen. Als Resultat werden Menschen an den EU-Grenzen – innerhalb wie außerhalb – unter menschenfeindlichen Bedingungen in Lagern festgehalten, um sie an einer Flucht in EU-Staaten zu hindern.
Dadurch werden flüchtende Menschen gezwungen, immer gefährlichere Fluchtrouten – etwa über das Mittelmeer – zu wählen. Im Mittelmeer ertrinken derweil tausende Menschen, während die EU-Staaten tatenlos zusehen, ja sogar die Rettung der Menschen durch private Seenotrettungsorganisationen behindern, indem sie diesen das Einlaufen in sichere Häfen verweigern oder diese dort festsetzen!
Schaffen es Flüchtende trotz dieser menschenverachtenden und lebensfeindlichen Abschottungspolitik der EU dennoch, die EU zu erreichen, werden sie dort in Massenunterkünften einquartiert und von der übrigen Bevölkerung getrennt. Während sie dort auf die Entscheidung über ihren Antrag auf Asyl warten, erleben sie vielfach brutale Übergriffe durch die Polizei und rassistische Anfeindungen durch die Gesellschaft. Zahlreiche Geflüchtete werden brutal abgeschoben, teilweise sogar in Kriegsgebiete.
Autoritärer Umbau der EU-Staaten
Zugleich findet in vielen EU-Staaten ein autoritärer Umbau statt: Viele Staaten erfahren eine innere Aufrüstung. Unter dem Deckmantel der sogenannten „Terrrorabwehr“ werden polizeiliche und geheimdienstliche Befugnisse ausgeweitet. In Bayern beispielsweise wurde mit der Neuauflage des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes die Grenze zwischen Polizei und Geheimdiensten aufgeweicht, es wurden Möglichkeiten geschaffen, Menschen auch ohne richterlichen Beschluss präventiv, d.h. auf den Verdacht hin, dass diese etwas planen könnten, in Haft zu nehmen und die Hürden für den Einsatz tödlicher Kampfmittel wie Handgranaten durch die Polizei wurden gesenkt. Das bayerische Polizeiaufgabengesetz gilt dabei als deutschlandweites Vorbild für die Polizeien der Länder.
Die innere Aufrüstung der Staaten dient selbstverständlich dazu, zukünftig besser gegen Minderheiten ebenso wie Oppositionelle vorgehen zu können. Sie ist Bestandteil des Umbaus eines Staates von einer bürgerlichen Demokratie hin zu einem autoritären Staat. Der Unterschied zwischen den beiden Staatsformen liegt vor allem in der Subtilität der Herrschaft und damit in der Wahl der Repressionsmittel. Während der bürgerliche Staat eine gewisse Normierung seiner Bürger*innen und derer die es werden wollen vor allem durch Erziehung erreicht und in den meisten Fällen ohne den Einsatz offensichtlich repressiver Mittel wie Geldstrafen, Gefängnisse, etc. auskommt, setzt ein autoritärer Staat auf genau solche offensichtlich repressive Mittel: Wer nicht spurt, der*die kommt eben ins Gefängnis, muss möglicherweise auch Folter und andere Grausamkeiten ertragen.5
Das bedeutet für all diejenigen, die der gesellschaftlichen Norm nicht genügen und die bereits heute Repression durch den Staat oder die Gesellschaft erfahren eine deutliche Verschärfung ihrer Lebensumstände: Sie müssen mit Gefängnis, Folter und anderen Schikanen rechnen.
Werde Aktiv!
Wir wollen nicht in einer Welt der Herrschaft, Ausgrenzung und Kontrolle leben, sondern kämpfen für ein herrschaftsfreies, solidarisches und selbstorganisiertes Miteinander aller Menschen. Deshalb rufen wir auch dich dazu auf, mit uns gegen die bestehende, rassistische Ordnung ebenso wie gegen eine weitere Verschärfung dieser Zustände zu kämpfen.
Die Proteste gegen den S20-Gipfel in Salzburg sind dabei eine gute Gelegenheit, unser Nichteinverständnis mit der rassistischen Abschottungspolitik der EU zu zeigen. Gemeinsam mit vielen anderen Menschen werden wir zeigen, dass wir auch weiterhin unregierbar bleiben.
Doch es genügt nicht, anlässlich von Gipfeltreffen symbolischen Protest gegen die bestehende Ordnung auf die Straßen zu tragen. Wir halten es für notwendig, unsere radikale Opposition zur herrschenden Ordnung Tag für Tag zum Ausdruck zu bringen. Deshalb organisiert euch, indem ihr euch mit Gleichgesinnten vernetzt, bildet Banden und stört die herrschende Ordnung wo immer ihr nur könnt.
Gegen eine Welt der Herrschaft, Ausgrenzung und Kontrolle!
Für die Anarchie!
Weitere Informationen zu den NoS20!-Protesten
Weitere Informationen zu den NoS20!-Protesten in Salzburg erhaltet ihr auf folgenden Seiten:
Pennplatzbörse in München
Für die Nächte vom 19./20. September und 20./21. September gibt es eine Pennplatzbörse in München. Schreibt an pennengehen_s20@riseup.net
Fußnoten
- Eine kurze und keinesfalls abschließende Liste an Beispielen für pogromartige Übergriffe in den letzten Jahren: In Heidenau griff im August 2015 ein extrem rechter Mob Busse an, in denen Geflüchtete zu einer örtlichen Unterkunft transportiert werden sollten. Es kam zu einer Straßenschlacht zwischen Nazis und Polizei. Im Oktober 2015 verhinderte ebenfalls ein extrem rechter Mob die Anreise von Geflüchteten in eine Unterkunft in Chemnitz-Einsiedel. In Clausnitz stoppte ein Mob von rund 100 Personen unter „Wir sind das Volk“-Rufen im Februar 2016 einen Bus voller Geflüchteter. Fast eine Stunde bedrängten sie die völlig verängstigten Insassen des Busses, dann kam die Polizei und führte die Geflüchteten teils im Würgegriff durch den faschistischen Mob in die Unterkunft. In Bautzen griffen im September 2016 rund 80 Neonazis eine Gruppe von 15 bis 20 Jugendlichen of Color an.
- Erst kürzlich ging in München der NSU-Prozess zuende. Die erschütternde Bilanz: Der deutsche Staat weigerte sich nicht nur, eine angemessene Aufarbeitung der zehn bekannten Morde des NSU-Netzwerks vorzulegen, sondern deckt auch weiterhin zahlreiche Angehörige eines rechtsterroristischen Netzwerks. Schlimmer noch: staatliche Behörden sind tief in dieses Netzwerk verstrickt: Die NSU-Morde geschahen unter Aufsicht des Staates!
- Weitestgehend. Denn wer schon einmal gezwungen war, einem Dorffest, einer Familienfeier einer vorwiegend weißen Familie oder einer Betriebsfeier beizuwohnen, der*die weiß, dass spätestens wenn der Alkohol die Zunge rassistischer Deutscher gelockert hat, zwischen dem gelallten „Noch ein Bier bitte“ und sexistischen Anzüglichkeiten genügend Raum für menschenverachtende, rassistische Äußerungen bleibt, die nicht selten zur allgemeinen Erheiterung der weißen Anwesenden beitragen.
- In Deutschland lebende, weiße Ausländer*innen mit US-amerikanischen, britischen, französischen, österreichischen, schweizerischen oder ähnlichen Staatsbürgerschaften werden von der deutschen Mehrheitsgesellschaft weniger als Gefahr angesehen.
- Dass es bereits heute zahlreiche Fälle gibt in denen die Polizei Menschen unerlaubterweise psychisch und physisch foltert und diese Vorkommnisse von Medien und Öffentlichkeit geflissentlich ignoriert werden, zeigt nur, dass auch ein bürgerlicher Staat Gebrauch von solchen Repressionsmitteln macht. Nur eben nicht so häufig.