He Zhen: Die Probleme der Frauenbefreiung

Der folgende Text ist eine Übersetzung der englischen Übersetzung von He Zhens Artikel „The Problems of Women’s Liberation“ aus Graham R. (Hrsg.) „Anarchism – A Documentary History of Libertarian Ideas Volume One“. Die englische Übersetzung ist online bei der Anarchist Library abrufbar. Der ursprüngliche Artikel stammt aus dem Jahr 1907.

Dieser Text wurde im Rahmen einer Sammlung von Texten zu anarchistisch-feministischen Kämpfen in Vergangenheit und Gegenwart übersetzt. Als solcher spiegelt dieser Text nicht uneingeschränkt die Meinung der*des Übersetzer*in wieder. Insbesondere von He Zhens Sexarbeitsfeindlicher Haltung, die zumindest aus heutiger Perspektive stark moralisierend und undifferenziert wirkt und der teils massiven Abwertung von (weiblicher) Sexualität distanziert sich die*der Übersetzer*in.

 

In den vergangenen tausend Jahren war die Welt eine Welt, die von Klassenhierarchien konstruiert und von Männern dominiert war. Um diese Welt zu einer besseren zu machen, müssen wir das System männlicher Unterdrückung zerstören und Gleichberechtigung schaffen, so dass Männer und Frauen gemeinsam auf dieser Welt leben. All diese Veränderungen beginnen mit der Befreiung der Frauen.

Tausend Jahre lang, zwangen die sozialen Strukturen Chinas Frauen dazu, unterwürfige Sklavinnen zu sein. In den früheren Zeiten wurden Frauen wie das Eigentum der Männer behandelt. Um Freizügigkeit zu verhindern, etablierten Männer bestimmte Moralvorstellungen, die die Unterschiede zwischen den Geschlechtern betonten. Mit der Zeit wurden die Unterschiede zwischen Männern und Frauen als Naturgesetz betrachtet. Frauen wurden auf den privaten Bereich beschränkt, konnten nur selten reisen, ihre Verantwortung wurde darauf beschränkt, Kinder aufzuziehen und den Haushalt zu führen.

Die chinesische Religion glaubt, dass die Nachfahren den Geist ihrer Vorfahren in sich tragen. Daher glauben die Menschen, dass Fortpflanzung ein Weg ist, um Unsterblichkeit zu erlangen. Das politische System in China behandelt Nachkommen als Eigentum, daher betrachten die Menschen Fortpflanzung als ein Mittel, um Wohlstand zu erlangen. Sowohl von der Religion, als auch dem politischen System wird die männliche Lust unterstützt; Männer sehen Frauen deshalb als ein Werkzeug zur Vermehrung der Menschheit. Ferner sind Männer in China selten bereit, auch nur simpelste Haushaltsaufgaben zu übernehmen; stattdessen erledigen Frauen all diese physischen Arbeiten und sorgen außerdem für die Kinder. Das sind weitere Gründe dafür, dass die Aufzucht von Kindern und die Führung des Haushaltes zur lebenslangen Karriere von Frauen werden. Einerseits behandeln Männer Frauen wie ihr persönliches Eigentum, andererseits hat es der niedrige Lebensstandard vormoderner Zeiten möglich gemacht, dass die Arbeit der Männer ein ausreichendes Einkommen einbringt, um die Familie zu ernähren, was für Frauen aus wohlhabenden Familien nur selten andere Arbeiten als die Aufzucht der Kinder und die Führung des Haushaltes bedeutete. Deshalb versammeln sich alle Unarten von Sklaverei und Untätigkeit um Frauen. Nur in armen Familien kommt es häufiger vor, dass Frauen ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten. Sie arbeiten auf den Feldern, sie werden als Mägde angeheuert und schlimmstenfalls werden sie zu Sexarbeiterinnen. Diese Frauen, auch wenn sie physisch weniger beansprucht werden, erlangen niemals spirituelle Befreiung. Tatsächlich sind diejenigen, die physische Befreiung erfahren, die am meisten Ausgebeuteten, die am stärksten Gedemütigten und die am stärksten Herabgewürdigten.

Männer wollen die Befreiung der Frauen verhindern, weil sie befürchten, dass diese Befreiung zu promiskuösem Verhalten der Frauen führen könnte. Je mehr Einschränkungen Männer Frauen auferlegen, desto stärker wird der Wunsch der Frauen nach Übertretungen [transgression]. Frauen werden jede Gelegenheit, die sich ihnen bietet nutzen, um sich selbst zu befreien. Ähnlich verhält es sich mit dem Stehlen: Obwohl es verboten ist, zu stehlen, wird das Verlangen eines Diebes ein Objekt zu stehlen nur größer, wenn er*sie seinen Wert erkannt hat. Es ist also die Einengung, nicht die Befreiung der Frauen, die zum Ehebruch führt. Wie können die Menschen in China nur behaupten, dass die Befreiung Frauen promiskuös werden ließe? Sie verstehen die tatsächlichen Verhältnisse nicht. Je mehr sie die Befreiung der Frauen verbieten, desto mehr degenerieren sie die weiblichen Tugenden. Daran liegt es, dass Frauen in China nicht vorankommen.

Wahre Befreiung bedeutet absolute Freiheit von jeder Form der Einschränkung. Das derzeitige westliche System der Ehe wird bestimmt durch Machtverhältnisse, Wohlstand, Moral und Gesetze. Auch wenn behauptet wird, dass mensch die Ehe aus freien Stücken einginge, heiraten doch nicht alle Männer und Frauen im Westen nur aus Liebe, oder? Männer verführen Frauen oft mit ihrem Wohlstand; Frauen aus reichen Familien sind ebenfalls in der Lage, mehr Verehrer anzuziehen. Manchmal zwingen reiche Männer sogar arme Frauen dazu, sie zu heiraten. Das ist die Einengung der Ehe durch Reichtum. In einigen Fällen ehelichen Männer Frauen aus namhaftem Hause, um in der gesellschaftlichen Hierarchie aufzusteigen; In anderen Fällen können angesehene Männer und Frauen von geringem sozialen Status nicht heiraten, wegen ihrer Klassenunterschiede. Das ist die Einengung der Ehe durch Macht. Es gibt schlicht keine Ehe der Freiheit! Selbst wenn Frauen in modernen Gesellschaften, die von Gesetzen regiert werden, die gleiche Bildung wie Männer erhalten, haben sie nur sehr selten die Gelegenheit, Politik oder Jura zu studieren; Und daran, an Armee- oder Polizeischulen aufgenommen zu werden, brauchen sie gar nicht zu denken. Auch wenn behauptet wird, dass Frauen die gleichen Chancen wie Männer im modernen, bürokratischen Staatsapparat haben, bekleiden sie doch keine öffentlichen Ämter. Geschlechtergerechtigkeit existiert nur auf dem Papier.

Die Befreiung der Frauen sollte Frauen den Genuss echter Gleichheit und Freiheit bringen. Das westliche System bringt Frauen heute Freiheit und Gleichheit nur auf dem Papier. Die Freiheit, die sie behaupten, zu besitzen ist keine echte, sondern falsche Freiheit! Die Gleichheit ist falsche Gleichheit! Ohne echte Freheit, fehlen Frauen die vollen Entwicklungsmöglichkeiten; ohne echte Gleichheit genießen nicht alle Menschenrechte. Frauen aus Asien glauben aus Ehrfurcht vor der Entwicklung der westlichen Zivilisation, dass Frauen aus dem Westen befreit seien und vollständige Freiheit und Gleichheit mit Männern teilen würden. Sie wollen in die Fußstapfen der westlichen Frauen treten. Ach! Wo wir uns doch im Zeitalter der Revolution der Frauen befinden, möchte ich nicht, dass sich Frauen mit falscher Freiheit und falscher Gleichheit zufrieden geben; Ich hoffe fest, dass Frauen echte Freiheit und echte Gleichheit erlangen!

In den letzten Jahren haben die Menschen begonnen, in der chinesischen Gesellschaft nach der Befreiung der Frauen zu suchen. Die Befreiung der Frauen kann entweder aktiv oder passiv erreicht werden. Was bedeutet es, Befreiung aktiv zu erreichen? Es bedeutet, dass Frauen selbst nach Freiheit streben und diese selbst verfechten. Was bedeutet es, Befreiung passiv zu erreichen? Es bedeutet, dass Frauen die Freiheit von Männern geschenkt wird. Bislang wurden die Errungenschaften zur Befreiung der Frau in China vor allem auf dem passiven Weg geschaffen. Wenn die meisten Verfechter*innen der Befreiung der Frauen Männer sind, bedeutet das, dass Frauen nicht so viel erreichen, wie Männer. Warum unterstützen in den letzten Jahren Männer die Befreiung der Frauen und die Gleichberechtigung der Geschlechter, wenn sie in der Vergangenheit mit ganzem Herzen die Unterdrückung und Beschränkung der Frauen unterstützt haben? Dafür gibt es drei mögliche Erklärungen. Erstens: Männer in China verehren die blanke Macht. Sie glauben, dass China dem System der größten zivilisatorischen Kräfte der Welt, wie Europa, Amerika und Japan folgen sollte. Wenn chinesische Männer ihren Frauen und Töchtern die Praktik des Füßebindens verbieten, sie in Schulen schicken und für ihre Bildung sorgen, dann würde China als zivilisiert gelten. Chinesische Männer würden das Ansehen der Zivilisation genießen und so auch ihre Familien. Wenn diese „zivilisierten“ Männer mit ihren „zivilisierten“ Frauen und Töchtern in der Öffentlichkeit auftreten, würden sie Applaus für ihre Errungenschaften ernten. Verfechten diese Männer die Befreiung der Frauen im Namen der Frauen? Sie benutzen Frauen nur, um selbst Ruhm zu ernten. Ihr selbstsüchtiges Verhalten beweist, dass sie Frauen als ihr persönliches Eigentum betrachten. Würde die Emanzipation der Frauen nicht ihre Reputation beeinflussen, wären sie nicht besonders interessiert an der Befreiung der Frauen. Die Privatisierung der Frauen durch chinesische Männer offenbarte sich das erste Mal in ihren Bemühungen, Frauen in der alten Gesellschaft der Traditionen zu fesseln; nun drückt sie sich durch ihr Plädoyer für die Befreiung der Frauen nach westlichem Vorbild aus.

Zweitens: Die Verfechtung der Befreiung der Frauen durch chinesische Männer hängt mit Chinas ökonomischer Stagnation zusammen. Mittelklassefamilien haben Schwierigkeiten, ihre weiblichen Mitglieder zu unterstützen. Männer haben erkannt, dass sie von der Unterdrückung der Frauen nicht profitieren; Stattdessen richtet diese ihre Wirtschaft zugrunde. Also verfechten sie die Unabhängigkeit der Frauen und sehen fortan die ökonomische Abhängigkeit der Frauen von Männern als ihr größtes Feindbild. Chinesische Männer ermutigen ihre Töchter dazu, Mädchenschulen zu besuchen. Frauen von weniger wohlhabenden Familien erlernen Handwerke wie Stickerei, Stricken, Nähen und Kochen. Die glüchlichsten unter ihnen besuchen Schulen für Lehrerinnen. Die begabteren Frauen erhalten professionelle Ausbildungen wie Medizin und Naturwissenschaften außerhalb des regulären Bildungswegs. Männer verfechten die Bildung von Frauen nicht, um die Situation der Frauen zu verbessern, sondern zu ihrem eigenen Vorteil. Nach ihrem Abschluss sind Frauen in der Lage, ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, indem sie Lehrerinnen oder qualifizierte Arbeiterinnen werden. Sie werden außerdem gezwungen, ihre Familien zu unterstützen. Weil ihre Töchter nun zum Unterhalt der Familie beitragen oder gar die Hauptverdienerinnen werden, können Männer nun mehr Freizeit genießen oder ihr Geld für ihre Geliebten und Prostituierte ausgeben. Während Männer sich ohne Zurückhaltung ihren Vergnügungen hingeben, leiden ihre Töchter unter der Öde der Entbehrungen. Männer verfechten die Unabhängigkeit von Frauen nur für den eigenen Profit. Das ist der zweite Grund, aus dem chinesische Männer die Befreiung der Frauen verfechten.

Drittens: Chinesische Männer schätzen die Familien und haben große Erwartungen an ihren Nachwuchs. Nichtsdestotrotz sind sie nicht in der Lage dazu, den Haushalt zu führen und ihre Kinder selbst aufzuziehen. Sie wollen, dass Frauen diese Verantwortung übernehmen. Deshalb wurde Hauswirtschaft das beliebteste Fach in Mädchenschulen in China. Selbst Chinas neu gegründete Partei, die Revolutionäre Allianz, verkündete, dass familiäre Bildung die Grundlage aller Bildung ist. Es wird impliziert, dass eine zivilisierte Frau ihren Haushalt besser managen kann, als eine rückständige Frau; eine zivilisierte Frau kann ihre Kinder besser bilden, dals eine rückständige Frau. Tatsächlich gehört die Familie dem Mann, deshalb ist sich um die Familie zu kümmern das gleiche, wie dem Mann zu dienen; Auch die Kinder gehören dem Mann, sie erhalten den Nachnamen des Vaters statt den der Mutter. Deshalb versuchen Männer die Frauen für ihre Zwecke zu nutzen. Zusammenfassend zeigen die drei genannten Gründe, dass Männer selbstsüchtig ihren Vorteil aus der Befreiung der Frauen ziehen. Sie behaupten, Frauen dabei zu helfen, Unabhängigkeit zu erlangen und zivilisiert zu werden; Tatsächlich geben sie Frauen die Hoffnung, befreit zu werden, aber bringen Frauen lediglich in Not. In der traditionellen Gesellschaft hatten Männer einen höhren Rang als Frauen, aber Frauen genossen mehr physische Freiheiten und Freizeit; Heute genießen Männer noch immer einen höheren Rang als Frauen, obwohl Frauen die Arbeit der Männer teilen und Männer die Genüsse der Frauen. Warum sollten Frauen zufrieden damit sein, von Männern benutzt zu werden? Törichte Frauen loben Männer dafür, die Befreiung der Frauen zu initiieren. Sie begreifen nicht, dass sie exakt das gleiche tun wie die mandschurischen Verfassungsrechtler. Die Mandschu haben eine Verfassung entworfen, aber sie sind nicht bereit, den Menschen politische Macht zu verleihen. Ensowenigbe bedeutet die Verfechtung der Befreiung der Frau durch Männer, dass Frauen tatsächlich Macht von Männern erhalten würden.

Ich sage weder, dass Männer all die Arbeit verrichten sollten, noch schlage ich vor, dass die Rechte der Frauen nicht ausgeweitet werden sollten und Frauen ihre Pflichten willig nachkommen sollten. Wofür ich argumentiere ist: Frauen sollten selbst für ihre Rechte kämpfen und sich nicht darauf verlassen, dass Männer ihnen diese gewähren. Wenn Frauen Befehle von Männern befolgen, haben sie bereits ihre eigene Freiheit verloren; Wenn Frauen ihre Rechte von Männern erhalten, haben sie sich bereits von Männern abhängig gemacht. Wenn die Befreiung der Frauen in der Macht der Männer liegt, beuten Männer Frauen aus und unterwerfen sich Frauen schließlich. Deshalb sage ich, dass Frauen selbst für ihre Befreiung kämpfen sollten, ohne sich darauf zu verlassen, dass Männer ihnen diese gewähren. Heute blicken die chinesischen Frauen alle zu den Männern auf, als Antwort auf ihre Befreiung. Sie sind alle Willens, eine passive Rolle einzunehmen, weil es ihnen an Selbstbewusstsein fehlt. Ohne Selbstbewusstsein werden Frauen von Männern manipuliert und ehren diese sogar noch. Sind diese Frauen nicht die größte Schande?

Ich habe über die Kehrseiten der passiven Befreiung der Frauen gesprochen. Zweifelslos gibt es einige chinesische Frauen, die sich nach Freiheit und Gleichheit sehnen und sich von Traditionen nicht zügeln lassen wollen. Ihr Kampf um Befreiung scheint von ihrem eigenen Willen geleitet zu sein. Doch wir müssen ihre wahre Motivation erkunden. Was sie wirklich wollen ist es, sich im Namen der Freiheit und Gleichheit uneingeschränkt ihren sexuellen Gelüsten hinzugeben. Sie fassen Befreiung eng als Weg, ihre sexuellen Gelüste auszuleben auf. Sie verstehen nicht, dass wahre Befreiung nur dann erreicht werden kann, wenn Frauen sich selbst emanzipieren, um die Macht zu erlangen, die Gesellschaft zu verändern. Wenn Frauen nur an Liebe und Sex interessiert sind, wird ihr Geist, die Menschheit zu retten durch exzessive Gelüste ersetzt und sie werden ihre Ziele deshalb nicht erreichen. Es ist gerechtfertigt, wenn die Obsessionen der Frauen von ihrem Streben nach freier Liebe herrühren. Aber nur sehr wenige chinesische Frauen passen in diese Kategorie. Einige können schlicht nicht der Versuchung widerstehen und würden mit jedem Mann gehen; einige werden verführt und werden dekadent. Einige verkaufen ihren Körper für Wohlstand: Entweder sie verdienen Geld durch Prostitution oder indem sie kokett mit reichen Männern flirten. Sich selbst im Verlangen nach Reichtum zu blamieren ist das erniedrigenste Verhalten. Können wir ein solches Benehmen einen Akt der Freiheit nennen? Obendrein, wo der Ausdruck „Befreiung“ ursprünglich bedeutete, von der Sklaverei befreit zu werden, wie können wir da eine Verbindung zwischen Prostituierten und befreiten Frauen ziehen? Diese Frauen verkennen Befreiung als sexuellen Genuss, daher ist es schwierig für sie, zu erkennen, dass sie bereits zu den am meisten entwürdigten Prostituierten geworden sind.

Heute verstehen weiße Frauen die Schattenseiten der Geschlechterungerechtigkeit und identifizieren dien ungleiche Verteilung der Macht als Ursache der Geschlechterungerechtigkeit. Sie bilden Organisationen um für das Wahlrecht der Frauen zu kämpfen.

Die Mehrheit der Frauen sind bereits von beiden unterdrückt, von der Regierung und von den Männern. Das Wahlsystem vergrößert schlicht ihre Unterdrückung, indem es eine dritte, herrschende Gruppe einführt: Elitäre Frauen. Selbst wenn die Unterdrückung die gleiche bleibt, wird die Mehrheit der Frauen immer noch von einer Minderheit der Frauen ausgebeutet.

Wenn nur wenige Frauen in Machtpositionen die Mehrheit der Machtlosen Frauen dominieren, wird eine ungleiche Klassenhierarchie unter Frauen etabliert. Wenn die Mehrheit der Frauen nicht von Männern beherrscht werden wollen, warum sollten sie von Frauen beherrscht werden wollen? Deshalb sollten die Frauen, statt mit den Männern um Macht zu konkurrieren, danach streben das männliche Herrschaftssystem zu stürzen. Wenn Männer ihrer Privilegien enthoben werden, werden sie den Frauen gleichberechtigt sein. Es wird weder gehorsame Frauen, noch gehorsame Männer geben. Das ist die Befreiung der Frauen. Das ist eine radikale Verbesserung. Warum sollten wir uns einverstanden mit dem bestehenden parlamentarischen System erklären und die Wahlrechtsbewegung als ultimatives Ziel anerkennen? Nur wenn die Frauen daran interessiert sind, können sie ihre Bewegung von einer, die Einzug in die Regierung hält, zu einer die die Regierung zerstört, machen.

Was ist Anarchafeminismus?

Anarchafeminismus ist Anarchismus.

Anarchafeminismus steht jeder Form der Herrschaft feindlich gegenüber.

Anarchafeminismus richtet seinen Augenmerk auf die Formen der Herrschaft, die auf der Konstruktion einer Zweigeschlechtlichkeit und eine Normativierung von Sexualität basieren.

Anarchafeminismus beschäftigt sich mit Herrschaftsbeziehungen innerhalb unserer zwischenmenschlichen Beziehungen – seien es die Ehe, Heteronormativität, Toxische Männlichkeit oder die Herrschaft der Bezugspersonen über die sich unter ihrer Obhut befindenden Kinder.

Anarchafeminismus analysiert Geschlechterrollen und -bilder und wie diese sich herrschaftlich im zwischenmenschlichen Umgang auswirken.

Anarchafeminismus steht in Feindschaft gegenüber jeglichen Versuchen der Kontrolle und Herrschaft über den eigenen Körper.

Anarchafeminismus kämpft weder für das Verbot von irgendetwas noch für die Abschaffung dieses oder jenes Gesetzes.

Anarchafeminismus betrachtet die Justiz und den Staat an sich als patriarchal und damit als Feind – und nicht als Partner*innen im Kampf für mehr Gleichberechtigung.

Anarchafeminismus will keine Menschenrechte – Anarchafeminismus will den Begriff von „Recht“ zerstören.

Anarchafeminismus will weder die Herrschaft von Männern über Frauen noch die von Frauen über Männern noch von irgendwem anders über irgendwen – Anarchafeminismus will keine Herrschaft von Menschen über Menschen.

Anarchafeminismus braucht keine Allies – sondern Kompliz*innen im Kampf gegen jede Herrschaft.

Anarchafeminismus hält nichts von Politik, denn Politik ist das Entscheiden über die Köpfe anderer hinweg, ist symbolisches statt direktes Handeln.

Anarchafeminismus ist egoistisch – denn im Anarchafeminismus handeln nur Individuen.

Im Anarchafeminismus wird niemand geopfert und opfert sich niemand – weder für eine „Idee“ noch für jemand anderes.

Anarchafeminismus lehnt es ab „Diskriminierungen“ zu bekämpfen. Denn „Diskriminierungen“ lassen das Prinzip von Herrschaft intakt.

Anarchafeminismus kämpft nicht um die Befreiung einer bestimmten Gruppe – sondern für die Befreiung aller Menschen von jeglicher Form von Herrschaft.

Anarchafeminismus ist feindlich gegenüber jeder Form normativen Denkens – denn jede Norm ist Herrschaft.

Anarchafeminismus ist verdammt wütend und er rächt sich – auch in Form gewaltvollen Widerstands.

Anarchafeminismus will nichts reformieren. Er will zerstören. Und in den Trümmern der alten Welt ein herrschaftsfreies Miteinander finden.

Dieser Text entstand im Nachgang zu einem Ende Juli 2019 stattfindenen Workshop zu Anarchafeminismus.

bell hooks: Das Patriarchat verstehen

Im Zuge der Vorbereitungen für unseren Workshop zu Anarchafeminismus stellten wir überrascht fest, dass der Text „Understanding Patriarchy“ von bell hooks noch nicht übersetzt wurde, obwohl er – wie wir finden – eine sehr gute, pointierte Patriarchatsanalyse liefert, die auch die Rolle von Frauen in der Aufrechterhaltung des Patriarchats beleuchtet sowie auch auf die schädlichen Auswirkungen patriarchaler Vorstellungen auf männer eingeht. Daraufhin hat eine Person ihn flugs ins Deutsche übersetzt, damit auch Menschen, die sich nicht zutrauen Texte auf Englisch zu lesen, Zugang zu diesem interessanten Text bekommen können:

Das Patriarchat verstehen

von bell hooks

Das Patriarchat ist die lebensbedrohlichste soziale Krankheit, die den männlichen Körper und den Geist unserer Nation bedroht. Und doch benutzen die wenigsten Männer den Ausdruck vom “Patriarchat” in ihrer Alltagssprache. Die meisten Männer denken nie über das Patriarchat nach, was es bedeutet, wie es entsteht und wodurch es am Leben gehalten wird. Viele Männer können dieses Wort nicht einmal buchstabieren oder es richtig aussprechen. Das Wort “Patriarchat” kommt in ihrem Alltagsleben und in ihren Alltagsgedanken eben nicht vor. Männer, die dieses Wort schon einmal gehört haben und kennen, verbinden es mit der Befreiung der Frau, mit Feminismus, und verwerfen es damit, weil es irrelevant sei und mit ihren eigenen Erfahrungen nichts zu tun habe. Seit über 30 Jahre stehe ich nun schon auf Bühnen und rede über das Patriarchat. Ich selbst benutze dieses Wort täglich, und Männer, die mir zuhören, fragen mich oft, was ich damit meine.

Die alte anti-feministische These von den allmächtigen Männern wird durch nichts besser widerlegt als durch die Tatsache, dass Männer eine Hauptkomponente unsere politischen Systems grundlegend ignorieren, welche aber männliche Identität und männliches Selbstempfinden von der Geburt bis zum Tod formt und zu dem macht, was es ist. Oft benutze ich den Begriff vom “imperialistischen, rassistischen [white supremacist], kapitalistischen Patriarchat” um die ineinandergreifenden politischen Systeme deutlich zu machen, die der Politik unseres Staates zugrundeliegen. In unserer Kindheit und Jugend prägt uns von all diesen Systemen das Patriarchat am meisten, selbst wenn wir von diesem Wort noch nie gehört haben. Als Kinder werden uns patriarchale Rollenbilder zugeschrieben und unser Leben lang wird uns gezeigt, wie wir die am besten ausfüllen.

Das Patriarchat ist ein politisches-soziales System, das darauf besteht, dass Männer von Geburt an dominanter sind, dass sie allem und jedem, die*der dazu verdammt sind, schwach zu sein, überlegen sind, vor allem Frauen. Männer seien mit dem Recht ausgestattet worden, dominant zu sein und über die Schwachen zu herrschen. Diese Dominanz wird durch verschiedene Arte von Psychoterror und Gewalt aufrecht gehalten. Mein älterer Bruder und ich wurden im Abstand von einem Jahr geboren und das Patriarchat bestimmte darüber, wie wir beide von unseren Eltern behandelt wurden. Unsere Eltern glaubten an das Patriarchat, durch ihre Religion waren ihnen patriarchale Denkstrukturen beigebracht worden.

In der Kirche hatten sie gelernt, dass Gott die Männer geschaffen hätte um die Welt zu beherrschen und alles, was es so in dieser Welt gibt, und dass es die Aufgabe von Frauen sei, den Männern dabei zu helfen, zu gehorchen und immer eine untergeordnete Rolle im Vergleich zu den mächtigen Männern zu spielen. Ihnen wurde beigebracht, dass Gott männlich ist. Jede Institution, der sie in ihrem Leben begegneten, bestärkte dieses Denken, seien es Schulen, Gerichte, Klubs, Sportarenen oder Kirchen. Indem sie das patriarchale Denken annahmen, so wie alle anderen um sie herum auch, gaben sie es auch an ihre Kinder weiter, weil es wie der “natürliche” Weg wirkte, das Leben zu organisieren.

Als ihre Tochter wurde mir beigebracht, dass es meine Rolle sei, zu dienen, schwach zu sein, frei von der Bürde, denken zu müssen, sich um andere zu kümmern und sie zu erziehen. Meinem Bruder wurde beigebracht, dass es seine Rolle sei, bedient zu werden, stark zu sein, zu denken, strategisch zu sein, Pläne für sein Leben zu entwickeln und sich zu weigern, sich um andere zu kümmern oder sie zu erziehen. Mir wurde beigebracht, dass es sich für Frauen nicht gehöre, gewalttätig zu sein, dass das “unnatürlich” sei. Meinem Bruder wurde beigebracht, dass sich sein Wert in seiner Willem, Gewalt auszuüben bemesse (wenn auch nur in angemessenen Umgebungen). Ihm wurde beigebracht, dass es für Jungen gut sei, Gefallen an Gewalt zu finden (wenn auch nur in angemessenen Umgebungen). Ihm wurde beigebracht, dass ein Junge seine Gefühle nicht ausdrücken sollte. Mir wurde beigebracht, dass Mädchen Gefühle ausdrücken können und sollen, jedenfalls manche Gefühle. Wenn ich wütend darauf reagierte, dass mir irgendein Spielzeug vorenthalten wurde, wurde mir, einem Mädchen in einem patriarchalen Haushalt, gesagt, dass Wut kein angemessenes feminines Gefühl sein, dass dieses Gefühl nicht nur nicht ausgedrückt, sondern gänzlich ausgelöscht werden sollte. Wenn mein Bruder wütend darauf reagierte, dass ihm irgendein Spielzeug vorenthalten wurde, wurde ihm, einem Jungen in einem patriarchalen Haushalt, gesagt, dass seine Fähigkeit, wütend zu sein, gut sei, dass er aber lernen müsste, einzuschätzen, wann die beste Gelegenheit sei, Gewalt freien Lauf zu lassen. Er lernte, dass Wut nicht das richtige Mittel sei, um gegen die Wünsche seiner Eltern zu rebellieren. Aber später, als er erwachsen wurde, wurde ihm beigebracht, dass Wut sehr wohl erlaubt sei und dass, wenn er es zuließe, durch seine Wut provoziert zu werden, ihm dies helfen würde, sein Zuhause und seinen Staat zu verteidigen.

Wir lebten damals auf dem Land, weit entfernt von anderen Leuten. Unsere Vorstellung von Geschlechterrollen übernahmen wir von unseren Eltern, dadurch, dass wir durch ihr jeweiliges Verhalten beeinflusst wurden. Sowohl mein Bruder als auch ich erinnern uns an unsere Verwirrheit, was die Geschlechterrollen betraf. In Wirklichkeit war ich nämlich stärker als mein Bruder, schnell lernten wir, dass das nicht gut sei. Obwohl wir also oft verwirrt waren, wussten wir eine Sache mit Sicherheit: Wir konnten nicht so sein, und uns nicht so verhalten, wie wir wollten, und nicht das tun, was wir wollten. Für uns war klar, dass unser Verhalten einem vorgeschriebenen, gegenderten Skript folgen musste. Erst in unserem Erwachsenenalter lernten wir das Wort “Patriarchat” kennen, und wir kamen zu der Erkenntnis, dass dieses Skript, dass bestimmt hatte, wie wir zu sein hatten, und was unsere Identität ausmachen sollte, auf patriarchalen Wert- und Glaubensvorstellungen beruhte.

Mir war immer mehr als meinem Bruder daran gelegen, das Patriarchart anzufechten, weil es mich dazu zwang, nicht an Sachen teilnehmen zu können, an denen ich aber teilnehmen wollte. Murmeln waren in unserer Familie war in den 50ern ein Spiel für Jungen. Mein Bruder hatte seine Murmeln von männlichen Familienangehörigen vererbt bekommen, er besaß eine Zinnbox, in der er sie alle aufbewahrte. Für mich waren diese Murmeln, in allen möglichen Größen und Formen und wunderschön bemalt, das Schönste auf der Welt. Wir spielten zusammen Murmeln, wobei ich mich oft aggressiv an die Murmeln klammerte, die ich am schönsten fand und mich weigerte, sie zu teilen. Wenn mein Papa arbeiten war, fand es meine Mama, eine Hausfrau, schön, uns so zusammen spielen zu sehen. Aber Papa, der unser Spiel von einer patriarchalen Sichtweise aus begutachtete, missfiel, was er sah. Seine Tochter, aggressiv und wetteifernd bei der Sache, war eine bessere Spielerin als sein Sohn. Sein Sohn verhielt sich passiv, dem Junge schien es nicht wirklich wichtig zu sein, wer von beiden das Spiel gewann und war sogar damit einverstanden, Murmeln auszuhändigen, wenn er dazu aufgefordert wurde. Papa entschied, dass dieses Spiel beendet werden müsste, dass sowohl mein Bruder als auch ich eine Lektion in Sachen Geschlechterrollen verdient hätten.

Eines Abends hatte mein Vater meinem Bruder mal wieder erlaubt, die Zinnschachtel mit den Murmeln hervorzuholen. Ich wollte beim Spiel mitmachen und wurde von meinem Bruder belehrt “dass Mädchen nicht mit Murmeln spielen”, dass es sich um ein Jungenspiel handeln würde. Dieser Gedanke wollte nicht in meinen 4- oder 5-jährigen Kopf hinein und ich beharrte darauf, mitzuspielen, indem ich Murmeln aufhob und herumbolzte. Mein Vater mischte sich ein und befohl mir, damit aufzuhören. Ich hörte nicht auf ihn. Er wurde lauter und lauter. Dann plötzlich hob er mich hoch, brach eine Holzlatte aus unserer Haustür heraus und fing an, mich damit zu verprügeln. Dabei schrie er mich an: “Du bist nur ein kleines Mädchen. Wenn ich dir sage, dass du etwas tun sollst, dann meine ich das auch so.” Er schlug und schlug mich, er wollte, dass ich mein Vergehen einsah. Sein Zorn, seine Gewalt, zog die Aufmerksamkeit der ganzen Familie auf sich. Sie saßen außerstande sich zu rühren, in den Bann gezogen von dieser Pornographie der patriarchalen Gewalt. Nach dem Prügeln wurde ich verbannt – dazu gezwungen, alleine im Dunkeln zurückzubleiben. Mama kam ins Schlafzimmer, um meinen Schmerz zu lindern, und erklärte mir in ihrem sanften Südstaatenakzent: “Ich hab versucht, dich zu warnen. Du musst akzeptieren, dass du nur ein kleines Mädchen bist und Mädchen können nicht die gleichen Dinge tun wie Jungs.” Ganz im Sinne des Patriarchats war es nun ihre Aufgabe, zu bekräftigen, dass Papa richtig gehandelt hatte, in dem sie mich auf meinen angedachten Platz verwies, indem sie natürliche soziale Ordnung wieder herstellte.

Ich erinnere mich deshalb so gut an diese traumatischen Geschehnisse, weil sie zu einer Geschichte wurde, die in unserer Familie immer wieder erzählt wurde. Es kümmerte niemanden, dass das andauernde Wiedererzählen bei mir posttraumatischen Stress auslösen könnte; das Wiedererzählen war nötig, sowohl um die dahinterstehende Botschaft zu verfestigen als auch die Erinnerung an meinen Zustand der absoluten Machtlosigkeit. Die Rückbesinnung auf diese brutale Prügelattacke einer kleine Tochter, ausgeführt von einem großen starken Mann, war mehr als nur eine Mahnung, die mich an meinen angestammten Geschlechterplatz erinnern sollte, es war eine Mahnung an alle, die zuhörten und sich erinnerten, an alle meine Geschwister und meine längst erwachsene Mutter, dass unser patriarchale Vater der Herrscher unserer Familie war. Wir sollten uns daran erinnern, dass wir bestraft würden, sogar mit dem Tode bestraft, sollten wir uns nicht an seine Regeln halten. Auf diese Art und Weise lernen wir durch Erfahrungen die Kunst des Patriarchats kennen.

Nichts an dieser Geschichte ist einzigartig oder außergewöhnlich. Hört mensch auf die Erzählungen vieler verwundeter jetzt erwachsener Kinder, die in patriarchalen Haushalten groß geworden sind, wird mensch verschiedene Versionen der immer gleichen Geschichte zu Ohren bekommen. Es geht um den Einsatz von Gewalt, um die Indoktrination durch und die Akzeptanz vom Patriarchat zu bestärken. In seiner Schrift “Wie gelange ich zu dir durch?” berichtet Familientherapeut Terrence Real davon, wie seine Söhne in patriarchale Denkweisen hineingezogen wurden, obwohl die Familie versuchte, ein liebendes Zuhause mit antipatriarchalen Werten zu schaffen. Er erzählt von seinem kleinem Sohn Alexander, der solange Spaß daran hat, sich als Barbie zu verkleiden, bis andere Jungen, die mit seinem ältere Sohn spielen, das einmal mitbekommen und ihm durch Blicke und schockierten, missbilligendem Schweigen zu verstehen geben, dass sein Benehmen völlig inakzeptabel ist.

“Ohne es auch nur ein bisschen böse zu meinen, überbrachten ihre Blicke meinem Sohn eine Botschaft. So hat man sich nicht zu benehmen. Das Medium, durch welches diese Botschaft übermittelt wurde, war eine starke Emotion: Nämlich Scham. Im Alter von drei Jahren wurden Alexander die Regeln klar. Ein zehnsekündiger, wortloser Vorfall war mächtig genug, meinen Sohn von seiner Lieblingsbeschäftigung abzubringen. Ich nenne solche einflussreichen Momente die “normale Traumatisierung” von Jungen. “

Um Jungen mit den Regeln des Patriarchats zu indoktrinieren zwingen wir sie dazu, Schmerzen zu erleiden und ihre Gefühle zu verleugnen.

Meine Erlebnisse ereigneten sich in den 50er Jahren, die Erlebnisse, die Real widergibt, spielen im Hier und Jetzt. Aber beide heben die Tyrannei patriarchaler Denkweisen hervor, die Macht der patriarchalen Kultur, die uns gefangen hält. Real ist einer der vorurteilsfreisten Denker auf dem Gebiet der patriarchalen Maskulinität unseres Landes, und trotzdem schafft er es nicht, seine Jungs aus den Klauen des Patriarchats herauszuhalten. Sie leiden unter dessen Angriffen, so wie es alle Jungen und Mädchen mal mehr, mal weniger tun. Kein Zweifel, indem Real ein liebevolles Zuhause schafft, das nicht patriarchal ist, lässt er seinen Jungs wenigstens die Wahlfreiheit: Sie können sich entscheiden, ob sie so sein wollen, wie sie sind, oder ob sie in Konformität mit patriarchalen Rollenbildern leben wollen. Real benutzt hier den Begriff des “psychologischen Patriarchats”, um das patriarchalen Denken zu beschreiben, das bei Männern und Frauen so verbreitet ist. Trotz dem zeitgenössischer und visionären feministischen Denken, das klarstellt, dass patriarchaler Denker*innen nicht zwingend männlich sein müssen, glauben die meisten Leute noch immer, dass das Problem am Patriarchat die Männer seien. Das stimmt einfach nicht. Frauen können genauso eng mit patriarchalen Denkweisen und Handlungen verbunden sein wie Männer.

Nützlich ist die scharfsichtige Definition des Patriarchats von Psychotherapeut John Bradshaw in der Schrift “Liebe erschaffen”: “Das Lexikon definiert Patriarchat als eine “soziale Ordnung, gekennzeichnet durch die Vorherrschafts des Vaters im Clan oder der Familie, sowohl in häuslichen also auch religiösen Beziehungen”. Das Patriarchat wird durch männliche Vorherrschaft und Macht charaktersiert. Weiter fährt er fort, dass “die Regeln des Patriarchats immer noch die meisten Weltreligionen, Schulsysteme und Familiensysteme beherrschen”. Die schädlichste dieser Regeln ist für Bradshaw “blinder Gehorsam – das ist das Fundament auf dem das Patriarchat gebaut ist; die Unterdrückung aller Gefühle, außer der Furcht, die Zerstörung der Willenskraft eines jede*n einzele*n, und die Unterdrückung des Denkens, sobald es von der Denkweise einer Autoritätsfigur abweicht.” Patriarchales Denken prägt die Werte unserer Gesellschaft. Wir werden in diesem System sozialisiert, Frauen wie auch Männer. Die meisten von uns haben patriarchale Einstellungen in unserer Herkunftsfamilie kennengelernt, normalerweise werden sie uns von unseren Müttern beigebracht. In der Schule und religiösen Einrichtungen werden solche Einstellungen dann noch verstärkt. Gegenwärtig gibt es viele Haushalte, die von Frauen geführt werden, was dazu führt, dass viele Leute meinen, dass Kinder in solchen Haushalten nicht mit patriarchalen Werten in Berühung kommen, weil keine männliche Person anwesend ist. Sie glauben, dass es nur die Männer sind, die patriarchales Denken vermitteln. Aber viele Frauengeführte Haushalte vermitteln viel stärkere patriarchale Denkweisen als Haushalte, in denen beide Elternteile anwesend sind. Frauen in Einzelhaushalten neigen viel stärker dazu, die patriarchale männliche Rolle und den patriarchalen Mann zu verklären, als Frauen, die täglich mit patriarchalen Männern zusammenleben, da sie keine reale Erfahrung haben, an denen sich ihre Fantasien messen könnten. Wir müssen die Rolle, die Frauen bei der Fortführung und bei der Erhaltung des Patriarchats spielen, deutlicher hervorheben, um zu verstehen, dass das Patriarchat ein System ist, das gleichermaßen von Frauen und Männern unterstützt wird, selbst wenn Männer mehr Vorteile von diesem System haben. Patriarchale Kultur muss in Zusammenarbeit von Frauen und Männern abgebaut und geändert werden.

Solange wir den Einfluss von so einem System auf unser Leben kollektiv verneinen, können wir so ein System offentsichtlich nicht niederreißen. Das Patriarchat fordert unbedingte männliche Dominanz, somit unterstützt, begünstigt und billigt es sexuelle Gewalt. Sexuelle Gewalt wird meistens nur in öffentlichen Debatten über Vergewaltigungen und Misshandlungen durch Lebensgefährten angeführt. Dabei findet patriarchale Gewalt alltäglich in Familien statt und zwar zwischen patriarchalen Eltern und ihren Kindern. Solche Gewalt wird meistens angewendet, um Dominanz einer Autoritätsfigur zu stärken, die als Herrscher über Machtlose erachtet wird und die das Recht hat, diese Herrschaft durch das Fordern von Unterwerfung, Unterordnung und Gehorsam aufrecht zu erhalten.

Unter anderem dadurch, dass Frauen und Männer dazu gebracht werden, über solche Vorgänge in ihren Familien zu schweigen, wird das Patriarchat aufrechterhalten. Eine überwältigende Mehrheit von Individuen erzwingt so eine unausgesprochene Regel in der ganzen Gesellschaft, die besagt, dass wir die Geheimnisse des Patriarchats für uns behalten sollen, womit wir die Rolle des Vaters schützen. Mensch sieht, wie diese Regel des Schweigens hochgehalten wird, wenn sogar ein einfacher Zugang zu einem Wort wie “Patriarchat” verhindert wird. Die meisten Kinder lernen kein Wort für dieses System der institutionalisierten Geschlechterrollen, da wir es in unserer Alltagssprache so selten überhaupt gebrauchen. Dieses Schweigen fördert Verneinung. Und wie schaffen wir es, uns zu organisieren und ein System anzugreifen, dass nicht einmal benannt wird?

Es ist kein Zufall, dass Feminist*innen angefangen haben, dass Wort “Patriarchat” anstelle von den geläufigeren Worten wie “männlicher Chauvinismus” und “Sexismus” zu verwenden. Diese mutigen Stimmen wollten, dass Frauen und Männer besser verstehen, dass das Patriarchats uns alle betrifft. Auf dem Höhepunkt des modernen Feminismus wurde dieses Wort in der Popkultur kaum benutzt. Anti-männliche Aktivistinnen waren genauso wenig daran interessiert, dass patriarchale System und dessen Wirkweisen zu benennen, wie ihre männlichen sexistischen Gegenspieler.

Denn dadurch wäre es unabdingbar geworden, offen zu legen, dass Männer allmächtig und Frauen machtlos sind, dass Männer alle unterdrücken und Frauen immer und einzig Opfer sind. Indem die Schuld am Fortbestand von Seximus alleine den Männern zugeschoben wird, können Frauen damit fortfahren, das Patriarchat zu erhalten und ihrer eigenen Begierde nach Macht freien Lauf lassen. Sie kaschieren diese Begierde nach Herrschen damit, dass sie sich in die Opferrollen begeben. Wie viele visionäre radikalen Feminist*innen habe ich diese Idee von Männern “als Feinde” angefochten, die von Frauen vertreten wurden, die einfach keine Lust mehr auf Ausbeutung und Unterdrückung durch Männer hatten. Schon 1984 fügte ich meinem Buch “Feministische Theorie: Vom Abseits ins Zentrum” ein Kapitel mit dem Titel “Männer: Kampfgefährten” hinzu, in dem ich Vertreter*innen feministischer Politik dringend darum bat, eine Rhetorik, die allein Männer für den Fortbestand des Patriarchats und männliche Unterdrückung verantworlich machte, zu hinterfragen:

“Separatistische Ideologie ermuntert Frauen dazu, die negativen Folgen, die Sexismus auf die männliche Persönlichkeit hat, zu ignorieren. Sie legt einen besonderen Wert auf Polarisation zwischen den Geschlechtern. Laut Joy Justice, vertreten Separatist*innen die Auffassung, dass es “zwei grundlegenden Perspektiven” gibt, wenn es darum geht, die Opfer von Sexismus zu benennen: “Es gibt die Perspektive, dass Männer Frauen unterdrücken. Und dann gibt es die Perspektive, dass Menschen Menschen sind und dass wir alle durch rigide Rollenvorstellungen verletzt werden. “… Beide Perspektiven beschreiben akkuart die Zwickmühle, in der wir uns befinden. In der Tat unterdrücken Männer Frauen. Leute werden durch rigide Rollenmuster verletzt, diese beiden Realitäten existieren nebeneinander. Männliche Unterdrückung von Frauen kann nicht dadurch entschuldigt werden, dass anerkannt wird, dass es durchaus möglich ist, dass Männer auf verschieden Weise durch sexistische Rollenmuster verletzt werden. Feministischen Aktivist*innen sollten diese Verletzungen anerkennen und auf Veränderung hinarbeiten. Männliche Mitwirkung am Patriarchat, die Aufrechterhaltung männlicher Macht, indem Männer Frauen in einer Art und Weise ausbeuten und unterdrücken, die immer noch schlimmer ist, als der große psychologische Stress und der emotionale Schmerz, der durch den männlichen Anpassungsdruck an rigide sexistische Rollenbilder ausgelöst wird, wird dadurch weder ausgelöscht noch weniger.

Immer wieder habe ich in diesem Aufsatz betont, dass Fürsprecher*innen für Frauenrechte insgeheim zu dem Schmerz der Männer, die durch das Patriarchat verwundet wurden, beitragen, wenn sie Männer fälschlicherweise als immer und als einzige Mächtige darstellen, die immer und als einzige Vergünstigungen vom Patriarchat bekommen, indem sie ihm blind gehorchen. Ich habe betont, dass die patriarchale Ideologie Männern einer Gehirnwäsche unterzieht, sodass sie glauben, dass ihre Dominanz gegenüber Frauen für sie Vorteile hat, auch wenn das nicht stimmt:

Feministische Aktivist*innen bestätigen diese Logik oft, obwohl wir solche Taten immer als Ausdrücke von pervertierten Machtverhältnissen sehen sollten, als ein generelles Fehlen von Kontrolle über die eigenen Handlungen, als emotionale Hilflosigkeit, extreme Irrationalität und in vielen Fällen als unverblümten Wahnsinn. Dadurch, dass Männer sexistische Ideologie rein passiv absorbieren, interpretieren sie ihr gestörtes Verhalten als etwas Positives. Solange Männern einer solche Gehirnwäsche unterzogen werden, sodass sie gewalttätige Herrschaft und Missbrauch von Frauen für ein Privileg halten, solange werden sie nicht verstehen, wie viel Schaden ihnen und anderen dabei zugefügt wird, und keine Motivation haben, sich zu ändern.

Das Patriarchat fordert von Männern, zu emotionalen Krüppeln werden und zu bleiben. Da es sich um ein System handelt, dass Männern freien Zugang zu ihrer Willensfreiheit verweigert, ist es für jeden Mann, welcher Klasse auch immer, schwierig, gegen das Patriarchat zu rebellieren und illoyal gegenüber einem patriarchalen Elternteil zu sein, sei das nun eine Frau oder ein Mann.

Der Mann, der für zwölf Jahre meine Hauptbezugsperson war, wurde durch die patriarchalen Dynamiken in seiner Herkunftsfamilie traumatisiert. Als ich ihn kennenlernte, war er in seinen Zwanzigern. Seine frühen Jahre hatte er in Gesellschaft seines gewalttätigen, alkoholkranken Vaters verbracht, aber die Umstände änderten sich, als er zwölf war und er ab dann alleine mit seiner Mutter lebte. In den ersten Jahren unserer Beziehung redete er offen über seinen Hass und seine Wut auf seinen ihn misshandelnden Vater. Er hatte kein Interesse daran, ihm zu verzeihen, oder die Umstände anzuerkennen, die das Leben von seinem Vater geprägt und beeinflusst hatten, weder in dessen Kindheit, noch in dessen beruflicher Laufbahn oder während dessen Zeit beim Militär.

In den ersten Jahren unserer Beziehung war er extrem kritisch gegenüber männlicher Dominanz über Frauen und Kinder. Obwohl er das Wort “Patriarchat” nicht kannte, wusste er, was es ist, und lehnte es ab. Andere Leute ignorierten ihn oft, hielten ihn für schwach und hilflos, weil er eine sanfte, ruhige Art an sich hatte. Als er 30 wurde, begann er, sich eine Macho Persönlichkeit zuzulegen, wobei er sich das Herrschaftsmodell zu eigen machte, dass er einst abgelehnt hatte. Indem er den Mantel des Patriarchats anlegte, erlangte er mehr Respekt und mehr Sichtbarkeit. Mehr Frauen fühlten sich zu ihm hingezogen. In der Öffentlichkeit wurde er deutlicher wahrgenommen. Seine Kritik an männlicher Dominanz schwächte sich ab. Und tatsächlich begann er dem Patriarchat nach dem Mund zu reden, sagte sexistische Sachen, die ihn in der Vergangenheit angeekelt hätten.

Diese Veränderungen in seinem Denken und seinem Verhalten wurden dadurch ausgelöst, dass er den Wunsch hatte, an seiner patriarchalen Arbeitsstelle akzeptiert zu werden und beruflich aufzusteigen. Seine Geschichte ist nicht ungewöhnlich. Jungen, die durch das Patriarchat verrohen und ihm zum Opfer fallen, werden später oft selber patriarchal, und nehmen die missbräuchliche, patriarchale Maskulinität an, von der sie früher ganz offen zu sagen wussten, dass sie falsch ist. Nur wenige Männer, die als Kinder im Namen patriarchaler Männlichkeit brutal missbraucht wurden, schaffen es, der Gehirnwäsche standzuhalten und später sich selber treu zu bleiben Die meisten Männer aber beugen sich auf die eine oder andere Weise dem Patriarchat.

Tatsächlich ist radikale feministische Kritik am Patriarchat in unserer Gesellschaft praktisch zum Schweigen gebracht worden. Sie ist zu einem subkulturellen Diskurs geworden, verfügbar nur den gut ausgebildeten Eliten. Selbst in diesen Kreisen gilt das Wort “Patriarchat” als passé. Wenn ich in meinen Vorlesungen den Begriff vom “imperialistischen, rassistischen [white supremacist], kapitalistischen Patriarchat” benutze, um das politische System unseres Landes zu beschreiben, lacht das Publikum oft. Niemensch hat mir je erklärt, warum es lustig ist, dieses System beim Namen zu nennen. Das Lachen selber ist schon eine Waffe des patriarchalen Terrorismus. Es dient als eine Gegenerklärung, schmälert die Bedeutung dessen, was beim Namen genannt wurde. Es suggeriert, dass die Worte selber das Problem seien, und nicht das System, das sie beschreiben. Ich interpretiere dieses Gelächter als ein Ausdruck von Unwohlsein des Publikums, wenn es aufgefordert wird, sich mit antipatriarchalen, ungehorsamen Menschen zu verbünden. Dieses Gelächter erinnert mich daran, dass, wenn ich mich traue, das Patriarchat offen anzugreifen, ich risikiere, nicht ernst genommen zu werden.

Bürger*innen dieses Landes fürchten sich davor, das Patriarchat herauszufordern, selbst wenn ihnen nicht offen bewusst ist, dass sie Angst haben, so tief eingebettet sind die Regeln des Patriarchats im kollektiven Unbewusstsein. Oft erkläre ich dem Publikum, dass, wenn wir von Tür zu Tür gingen und fragten, ob männliche Gewalt gegenüber Frauen aufhören solle, die meisten Menschen uneingeschränkt zustimmen würden. Dann, wenn wir ihnen sagen würden, dass männliche Gewalt gegenüber Frauen nur dadurch gestoppt werden kann, dass männliche Dominanz ein Ende findet und das Patriarchat aufgelöst wird, würden sie anfangen zu zögern und ihre Meinung zu ändern. Trotz der vielen Verdienste der modernen Feminismusbewegung – mehr Gleichheit für Frauen am Arbeitsplatz, mehr Toleranz für den Abbau veralteter rigider Genderrollen – bleibt das Patriarchat selbst unangegriffen und viele Leute glauben weiterhin, dass es gebraucht wird, soll die menschliche Spezies überleben. Das scheint ironisch angesichts der Tatsache, dass durch patriarchale Methoden, Nationen zu organisieren, besonders bei der Beharrung auf Gewalt als ein Mittel der sozialen Kontrolle, genau genommen zur der Hinschlachtung von Millionen von Menschen auf diesem Planeten geführt hat. Solange wir es nicht schaffen, gemeinsam anzuerkennen, welchen Schaden und welches Leiden das Patriarchat verursacht, können wir männlichen Schmerz nicht in Angriff nehmen. Wir können nicht für Männer das Recht einfordern, unversehrt zu bleiben, Leben zu geben und aufrechtzuerhalten. Es ist offentsichtlich, dass einige patriarchale Männer verlässliche und sogar gutmeinende Fürsorger und Ernährer sind, aber trotzdem werden sie von einem System gefangen gehalten, dass ihre mentale Gesundheit untergräbt. Das Patriarchat fördert Wahnsinn. Es ist die Wurzel vieler psychologischer Probleme, die Männer in unsere Gesellschaft umtreibt. Trotzdem gibt es keine Massenaufschrei ob der schlimmen Lage der Männer. Susan Faludi bezieht nur eine sehr kurze Diskussion über das Patriarchat in ihrem Buch “Der Verrat am amerikanischen Mann” mit ein:

“Fragt mensch Feminist*innen, was das Problem vieler Männer sei, bekommt mensch oft eine sehr deutliche Antwort: Männer befinden sich in einer Krise, weil Frauen die Vorherrschaft der Männer ernsthaft in Frage stellen. Frauen wollen, dass Männer ihre öffentliche Vormachtstellung teilen, und Männer können das nicht aushalten. Fragt mensch Antifeminist*innen, bekommt mensch eine Antwort, die der vorherigen in einer Hinsicht ähnelt. Männer seien verunsichert, sagen viele konservative Expert*innen, weil viele Frauen über das Ziel nach Gleichbehandlung hinausgeschossen seien, und nun versuchten, die Macht zu übernehmen und Männern die Kontrolle zu entreißen. Die darunter liegende Botschaft: Männer können keine Männer sein, lediglich Eunuchen, wenn sie nicht die Kontrolle haben. Sowohl die feministische als auch die antifeministische Sichtweise sind in einem eigentümlichen modernen amerikanischen Selbstverständnis verwurzelt, nachdem männlich sein beinhaltet, jederzeit die Kontrolle zu behalten.”

Faludi hinterfragt diese Idee der Kontrolle nie. Sie kommt nicht auf den Gedanken, dass es falsch ist, dass, bevor die moderne Frauenbewegung aufkam, Männer immer die Kontrolle hatten, mächtig waren und mit ihren Leben zufrieden.

Das Patriarchat als System veweigert Männern den Zugang zu einem emotionalem Wohlbefinden, was nicht das gleiche ist, wie sich belohnt, erfolgreich oder mächtig zu fühlen, weil man Kontrolle über andere ausüben kann. Um uns ernsthaft mit männlichem Schmerz und männlichen Krisen auseinanderzusetzen, muss unserere Gesellschaft dazu bereit sein, die harsche Realität aufzudecken, nämlich dass das Patriarchat Männer in der Vergangenheit geschädigt hat und das auch heute noch immer tut. Wenn das Patriarchat wirklich so belohnend gegenüber Männern wäre, würde die Gewalt und die Abhängigkeiten im Familienleben, die so allgegenwärtig sind, nicht existieren. Diese Gewalt wurde nicht von Feminist*innen erschaffen. Wenn das Patriarchat belohnend wäre, würde die überbordende Unzufriedenheit nicht existieren, die die meisten Männer in ihrem Arbeitsleben verspüren, eine Unzufriedenheit, die im dem Werk von Studs Terkel gut dokumentiert ist und ihren Nachhall auch Faludis Abhandlung findet. In vielerlei Hinsicht ist “Der Verrat am amerikanischen Mann” gleich noch ein Verrat an den amerikanischen Männern, weil Faludi so viel Aufwand betreibt, das Patriarchat eben nicht anzugreifen, gelingt es ihr nicht, die Notwendigkeit zu betonen, dass Patriarchat abzuschaffen, um dadurch die Männer zu befreien. Stattdessen schreibt sie:

“Anstatt mich zu fragen, warum sich Männer dem Kampf der Frauen für ein freieres und gesünderes Leben widersetzen, begann ich mich zu fragen, warum Männer nicht ihren eigenen Kampf aufnehmen. Warum, abgesehen von einigen zufälligen Wutanfällen, haben sie keine methodische, durchdachte Antwort auf ihre missliche Lage gefunden? Warum revoltieren Männer nicht, bei all diesen haltlosen und von Natur aus beleidigenden Forderungen, die in unserer Gesellschaft an sie gestellt werden? Warum antworten Männer nicht ähnlich wie die Frauen auf all diese Verrate, die ihnen in ihrem Leben begegnen, auf die Verfehlungen ihrer Väter, die versprochen haben, dass sie ein gutes Leben führen würden?”

Bemerkenswert ist hier, dass Faludi sich vor dem Zorn feministischer Frauen auf der einen Seite fürchtet, indem sie eben nicht vorschlägt, dass Männer eine Befreiung in der feministischen Bewegung finden könnten, und sich auf der anderen Seite vor einer Zurückweisung von potentiellen männlichen Lesern fürchtet, die solide antifeministisch eingestellt sind, sodass auch nicht vorschlägt, dass es ihnen etwas bringen könnte, sich in der Feminismusbewegung zu engagieren.

In unserer Gesellschaft ist im Moment die visionäre feministische Bewegung, die einzige soziale Gerechtigkeitsbewegung, die die Notwendigkeit betont, das Patriarchat abzuschaffen. Weder hat eine Frauenmassenbewegung das Patriarchat angezweifelt, noch hat sich eine Männergruppe zusammengefunden, um den Kampf anzuführen. Die Krise, die Männer betrifft, ist nicht eine Krise der Maskulinität, es ist eine Krise der patriarchalen Maskulinität. Solange diese Unterscheidung nicht für alle klar ist, werden Männer weiterhin befürchten, dass jede Kritik am Patriarchat eine Bedrohung für sie darstellt. Der Therapeut Terrence Real macht deutlich, dass das Patriarchat, das uns alle verletzt, sich tief in unsere Psychen eingegraben hat, wobei er dies zu einem politischen Patriarchat abgrenzt, das vor allem damit beschäftigt ist, Sexismus abzuschaffen:

“Das psychologische Patriarchat kann als die Dynamik beschrieben werden, die zwischen solchen Eigenschaften herrscht, die als “männlich” und als “weiblich” gelten. Die Hälfte dieser menschlichen Eigenschaften wird überhöht, die andere Hälfte abgewertet. Sowohl Männer als auch Frauen haben Anteil an diesem gepeinigten Wertesystem. Das psychologische Patriarchat ist ein “Tanz der Verachtung”, eine perverse Form einer Verbindung, das wahre Intimität vertauscht mit komplexen, verborgenen Schichten von Dominanz und Unterwerfung, Absprachen und Manipulation. Es ist das nicht anerkannte Musterbeispiel von Beziehungen, unter dem die westliche Zivilisation seit Generationen leidet, welches beide Geschlechter verformt und das leidenschaftliche Band zwischen ihnen zerstört.”

Durch die Hervorhebung des psychologischen Patriarchats, wird bemerkbar, dass wir alle davon betroffen sind, und so können wir die falsche Wahrnehmung ablegen, dass Männer der Feind seien. Um das Patriarchat abzuschaffen, müssen wir sowohl seine psychologischen als auch seine konkreten Auswüchse im täglichen Leben anzweifeln. Es gibt Leute, die das Patriarchat kritisieren, aber unfähig sind, in einer antipatriarchalen Art und Weise zu handeln. Um den Schmerz, den Männer erfahren, zu beenden, um effektiv auf Krisen von Männern reagieren zu können, müssen wir das Problem beim Namen nennen. Wir müssen sowohl anerkennen, dass das Patriarchat das Problem ist, als auch darauf hinarbeiten, es zu beenden. Terrence Real liefert dazu folgende wertvolle Einsicht:

“Die Rückforderung von Unversehrtheit ist etwas, was für Männer noch problematischer ist als für Frauen, noch schwieriger und für unsere jetzige Kultur noch deutlich bedrohlicher. Wenn Männer all das Gute zurückfordern, was Männlichkeit ausmachen kann, wenn sie wieder Zugang zu Offenherzigkeit und emotionaler Ausdrucksfähigkeit erhalten, was fundamental für das Wohlergehen ist, müssen wir uns Alternativen zu patriarchaler Maskulinität vergegenwärtigen. Wir müssen uns alle ändern.”

No S20! Gegen eine Welt der Herrschaft, Ausgrenzung und Kontrolle

Am 20. September treffen sich in Salzburg die Staats- und Regierungschef*innen der EU-Mitgliedsländer. Das Treffen steht unter dem Motto „ein Europa das schützt“. Themen, die auf dem Treffen behandelt werden sollen, sind etwa der „Schutz“ der EU-Außengrenzen, die sogenannte „innere Sicherheit“ und das Thema „Cybersicherheit“. Wie sich unschwer erraten lässt, wird es bei diesem Treffen also darum gehen, den rassistischen Überwachungs- und Repressionsapparat der EU auszubauen und das Projekt der Abschottung voranzubringen.

Wir rufen dazu auf, gegen diese autoritären und rassistischen Entwicklungen in Europa aktiv zu werden. Beteiligt euch an den Protesten gegen das S20-Treffen in Salzburg und tragt den Protest von dort zurück an eure Wohnorte und überall dahin, wo sich Herrschaft, Ausgrenzung und Kontrolle bemerkbar machen!

Für die Demonstration in Salzburg gibt es eine gemeinsame Zuganreise aus München. Treffpunkt dafür ist am 20. September um 08:15 Uhr am Münchner Ostbahnhof (Ausgang Friedensstraße).

Der rassistische Alltag in Deutschland

Wer die Bilder der faschistischen Eskalationen der letzten Tage in Chemnitz gesehen hat, der*die dürfte kaum Zweifel daran haben, welchen Weg die politische Entwicklung in Deutschland derzeit einschlägt. Und doch dürften diese Eskalationen kaum überraschen. Sie reihen sich ein in eine erschreckende Kontinuität pogromartiger Übergriffe auf Geflüchtete, sowie aus Sicht von Neonazis nicht deutsch genug aussehende Menschen, der letzten Jahre.1 Dazu kommen die zahlreichen organisierten2 und zum Teil auch spontanen Übergriffe auf People of Color durch Neonazis und Rassist*innen auch abseits der mobartigen Zusammenrottungen des Volks™. In Deutschland leben und nicht weiß sein ist dieser Tage wieder einmal lebensbedrohlich!

Natürlich kommen die Übergriffe nicht von ungefähr. Sie ereignen sich in einer Gesellschaft, in der die schon immer vorhandenen rassistischen Potenziale der Mehrheitsgesellschaft durch verschiedene gesellschaftliche Akteur*innen kanalisiert und vor allem überhaupt äußerbar gemacht werden. Die Tatsache, dass der Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten niemals ersnthaft bekämpft, sondern bestimmte, besonders offen menschenverachtende Formen des Rassismus bestenfalls geächtet und deren Äußerung damit weitestgehend unterdrückt wurde,3 führt nun, da die Tabus hinsichtlich der Äußerung  jener vormals unterdrückten Rassismen fallen, zu einem gewaltigen Backlash, in dem die deutschen Rassist*innen umso lauter darauf pochen ihre rassistischen und menschenverachtenden Weltanschauungen herauszubrüllen. Im Klima dieser verbalen Enthemmung lassen einige Rassist*innen ihren Worten Taten folgen und werden darin noch durch die Anfeuerungsrufe der Mehrheitsgesellschaft bestärkt.

Denn auch die deutschen Medien haben längst die rechten und rassistischen Narrative einer diffusen Gefahr für die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die wahlweise von Geflüchteten, Muslima*Muslimen, in Deutschland lebenden Ausländer*innen etwa türkischer, griechischer, italienischer oder osteuropäischer Staatsbürgerschaft,4 ebenso wie Migrant*innen und PoC ausgehen soll, übernommen. In der Konsequenz werden menschenverachtende Debatten, wie darüber, ob Menschen in Seenot vor dem Ertrinken gerettet werden sollten oder nicht, geführt, während über die Legitimität von Abschiebungen – auch in Kriegsgebiete – mittlerweile gar ein Konsens zu herrschen scheint.

Extreme Rechte in den europäischen Parlamenten

Rechte Parteien profitieren von dieser Rechtsverschiebung des politischen Diskurses, die ihre Strateg*innen gemeinsam mit vielen anderen gesellschaftlichen Akteur*innen jahrelang befeuert haben. In Deutschland begünstigte diese Diskursverschiebung den Einzug der rechtspopulistischen bis nationalsozialistischen AfD in Landtage, den Bundestag und das Europaparlament seit ihrer Gründung im Jahr 2013. Doch nicht nur die AfD ist ausdruck eines verschärften rassistischen politischen Klimas in Deutschland. Das gesamte Parteinspektrum von der Linken über Grüne, FDP und SPD bis hin zu CDU und CSU ist in den letzten Jahren deutlich nach rechts gerückt. Während getrieben von der CDU/CSU zutiefst rassistische und menschenverachtende Praktiken im Hinblick auf Deutschlands Asylpolitik durch die schwarz-rote Regierung umgesetzt werden, rassistische Gesetze wie die Integrationsgesetze verabschiedet werden, die alle Menschen in Deutschland auf eine weiße, christliche „Leitkultur“ festzulegen versuchen und Abweichungen davon unter Strafe stellen, und eine bislang undenkbare Ausweitung der Befugnisse der Polizei stattfindet, äußern auch Politiker*innen der Linken wie beispielsweise Sarah Wagenknecht Verständnis für deutsche Rassist*innen und fordern von geflüchteten Menschen eine Assimilation an die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft.

Diese Entwicklung ist keineswegs einzigartig in Deutschland. In der gesamten EU lässt sich derzeit ein erstarken rechter politischer Kräfte beobachten. Schon seit 2010 regiert in Ungarn die rechtspopulistische Fidesz und hat derzeit gar eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Für die CSU gilt die Asylpolitik von Regierungschef Viktor Orbán als Vorbild für Deutschland. Immer wieder dringen Berichte von menschenverachtenden Lebensbedingungen unter denen Geflüchtete in Ungarn in Lager eingesperrt werden an die Öffentlichkeit. In Polen regiert seit 2015 die rechtspopulistische PiS mit absoluter Mehrheit. Seitdem wurden zahlreiche autoritäre Gesetze verabschiedet und die Situation für Angehörige von marginalisierten Minderheiten im Land wird immer prekärer. In Frankreich scheiterte der Front National mit Kandidatin Marine Le Pen zwar bei den Präsidentschaftswahlen in der Stichwahl gegen Macron, dennoch führt auch Macron den autoritären Umbau des französischen Staates fort. In Spanien ist die rechtskonservative Partei Partido Popular derzeit stärkste parlamentarische Kraft und in Italien regiert ein seltsames Bündnis aus Rechts- und Linkspopulist*innen zwischen Lega und Fünf-Sterne-Bewegung.

In Österreich regiert seit 2017 eine Koalition aus konservativer ÖVP und rechtspopulistischer FPÖ. Seitdem wurde unter anderem ein rassistisch motiviertes Verhüllungsverbot, das darauf abzielt, das Tragen von Burkas, Niqabs, usw. unter Strafe zu stellen, sowie der 12-Stunden-Tag eingeführt. Angehörige der Regierung pflegen Beziehungen zu extrem rechten Burschenschaften und Neonazis.

Abschottung der EU

Hinsichtlich der Rechtsverschiebung des politischen Koordinatensystems in der ganzen EU ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Regierungen der EU-Staaten seit Jahren versuchen, Fluchtwege in die EU dicht zu machen und die EU so vor allem gegenüber dem nordafrikanischen Kontinent, der arabischen Halbinsel und Südasien abzuschotten. Dabei werden verhältnismäßig sichere Fluchtrouten über Landwege seit Jahren blockiert. Dabei scheut mensch sich auch nicht, schmutzige Deals mit autoritären und faschistischen Regierungen, etwa mit dem türkischen Diktator Erdoğan einzugehen, um zu verhindern, dass Menschen in die EU gelangen. Als Resultat werden Menschen an den EU-Grenzen – innerhalb wie außerhalb – unter menschenfeindlichen Bedingungen in Lagern festgehalten, um sie an einer Flucht in EU-Staaten zu hindern.

Dadurch werden flüchtende Menschen gezwungen, immer gefährlichere Fluchtrouten – etwa über das Mittelmeer – zu wählen. Im Mittelmeer ertrinken derweil tausende Menschen, während die EU-Staaten tatenlos zusehen, ja sogar die Rettung der Menschen durch private Seenotrettungsorganisationen behindern, indem sie diesen das Einlaufen in sichere Häfen verweigern oder diese dort festsetzen!

Schaffen es Flüchtende trotz dieser menschenverachtenden und lebensfeindlichen Abschottungspolitik der EU dennoch, die EU zu erreichen, werden sie dort in Massenunterkünften einquartiert und von der übrigen Bevölkerung getrennt. Während sie dort auf die Entscheidung über ihren Antrag auf Asyl warten, erleben sie vielfach brutale Übergriffe durch die Polizei und rassistische Anfeindungen durch die Gesellschaft. Zahlreiche Geflüchtete werden brutal abgeschoben, teilweise sogar in Kriegsgebiete.

Autoritärer Umbau der EU-Staaten

Zugleich findet in vielen EU-Staaten ein autoritärer Umbau statt: Viele Staaten erfahren eine innere Aufrüstung. Unter dem Deckmantel der sogenannten „Terrrorabwehr“ werden polizeiliche und geheimdienstliche Befugnisse ausgeweitet. In Bayern beispielsweise wurde mit der Neuauflage des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes die Grenze zwischen Polizei und Geheimdiensten aufgeweicht, es wurden Möglichkeiten geschaffen, Menschen auch ohne richterlichen Beschluss präventiv, d.h. auf den Verdacht hin, dass diese etwas planen könnten, in Haft zu nehmen und die Hürden für den Einsatz tödlicher Kampfmittel wie Handgranaten durch die Polizei wurden gesenkt. Das bayerische Polizeiaufgabengesetz gilt dabei als deutschlandweites Vorbild für die Polizeien der Länder.

Die innere Aufrüstung der Staaten dient selbstverständlich dazu, zukünftig besser gegen Minderheiten ebenso wie Oppositionelle vorgehen zu können. Sie ist Bestandteil des Umbaus eines Staates von einer bürgerlichen Demokratie hin zu einem autoritären Staat. Der Unterschied zwischen den beiden Staatsformen liegt vor allem in der Subtilität der Herrschaft und damit in der Wahl der Repressionsmittel. Während der bürgerliche Staat eine gewisse Normierung seiner Bürger*innen und derer die es werden wollen vor allem durch Erziehung erreicht und in den meisten Fällen ohne den Einsatz offensichtlich repressiver Mittel wie Geldstrafen, Gefängnisse, etc. auskommt, setzt ein autoritärer Staat auf genau solche offensichtlich repressive Mittel: Wer nicht spurt, der*die kommt eben ins Gefängnis, muss möglicherweise auch Folter und andere Grausamkeiten ertragen.5

Das bedeutet für all diejenigen, die der gesellschaftlichen Norm nicht genügen und die bereits heute Repression durch den Staat oder die Gesellschaft erfahren eine deutliche Verschärfung ihrer Lebensumstände: Sie müssen mit Gefängnis, Folter und anderen Schikanen rechnen.

Werde Aktiv!

Wir wollen nicht in einer Welt der Herrschaft, Ausgrenzung und Kontrolle leben, sondern kämpfen für ein herrschaftsfreies, solidarisches und selbstorganisiertes Miteinander aller Menschen. Deshalb rufen wir auch dich dazu auf, mit uns gegen die bestehende, rassistische Ordnung ebenso wie gegen eine weitere Verschärfung dieser Zustände zu kämpfen.

Die Proteste gegen den S20-Gipfel in Salzburg sind dabei eine gute Gelegenheit, unser Nichteinverständnis mit der rassistischen Abschottungspolitik der EU zu zeigen. Gemeinsam mit vielen anderen Menschen werden wir zeigen, dass wir auch weiterhin unregierbar bleiben.

Doch es genügt nicht, anlässlich von Gipfeltreffen symbolischen Protest gegen die bestehende Ordnung auf die Straßen zu tragen. Wir halten es für notwendig, unsere radikale Opposition zur herrschenden Ordnung Tag für Tag zum Ausdruck zu bringen. Deshalb organisiert euch, indem ihr euch mit Gleichgesinnten vernetzt, bildet Banden und stört die herrschende Ordnung wo immer ihr nur könnt.

Gegen eine Welt der Herrschaft, Ausgrenzung und Kontrolle!
Für die Anarchie!

Weitere Informationen zu den NoS20!-Protesten

Weitere Informationen zu den NoS20!-Protesten in Salzburg erhaltet ihr auf folgenden Seiten:

Pennplatzbörse in München

Für die Nächte vom 19./20. September und 20./21. September gibt es eine Pennplatzbörse in München. Schreibt an pennengehen_s20@riseup.net

Fußnoten

  1. Eine kurze und keinesfalls abschließende Liste an Beispielen für pogromartige Übergriffe in den letzten Jahren: In Heidenau griff im August 2015 ein extrem rechter Mob Busse an, in denen Geflüchtete zu einer örtlichen Unterkunft transportiert werden sollten. Es kam zu einer Straßenschlacht zwischen Nazis und Polizei. Im Oktober 2015 verhinderte ebenfalls ein extrem rechter Mob die Anreise von Geflüchteten in eine Unterkunft in Chemnitz-Einsiedel. In Clausnitz stoppte ein Mob von rund 100 Personen unter „Wir sind das Volk“-Rufen im Februar 2016 einen Bus voller Geflüchteter. Fast eine Stunde bedrängten sie die völlig verängstigten Insassen des Busses, dann kam die Polizei und führte die Geflüchteten teils im Würgegriff durch den faschistischen Mob in die Unterkunft. In Bautzen griffen im September 2016 rund 80 Neonazis eine Gruppe von 15 bis 20 Jugendlichen of Color an.
  2. Erst kürzlich ging in München der NSU-Prozess zuende. Die erschütternde Bilanz: Der deutsche Staat weigerte sich nicht nur, eine angemessene Aufarbeitung der zehn bekannten Morde des NSU-Netzwerks vorzulegen, sondern deckt auch weiterhin zahlreiche Angehörige eines rechtsterroristischen Netzwerks. Schlimmer noch: staatliche Behörden sind tief in dieses Netzwerk verstrickt: Die NSU-Morde geschahen unter Aufsicht des Staates!
  3. Weitestgehend. Denn wer schon einmal gezwungen war, einem Dorffest, einer Familienfeier einer vorwiegend weißen Familie oder einer Betriebsfeier beizuwohnen, der*die weiß, dass spätestens wenn der Alkohol die Zunge rassistischer Deutscher gelockert hat, zwischen dem gelallten „Noch ein Bier bitte“ und sexistischen Anzüglichkeiten genügend Raum für menschenverachtende, rassistische Äußerungen bleibt, die nicht selten zur allgemeinen Erheiterung der weißen Anwesenden beitragen.
  4. In Deutschland lebende, weiße Ausländer*innen mit US-amerikanischen, britischen, französischen, österreichischen, schweizerischen oder ähnlichen Staatsbürgerschaften werden von der deutschen Mehrheitsgesellschaft weniger als Gefahr angesehen.
  5. Dass es bereits heute zahlreiche Fälle gibt in denen die Polizei Menschen unerlaubterweise psychisch und physisch foltert und diese Vorkommnisse von Medien und Öffentlichkeit geflissentlich ignoriert werden, zeigt nur, dass auch ein bürgerlicher Staat Gebrauch von solchen Repressionsmitteln macht. Nur eben nicht so häufig.

Die Rolle der Gefängnisse innerhalb der Gesellschaft

Anlässlich der globalen Aktionswoche in Solidarität mit anarchistischen Gefangenen haben wir einen Text über die Rolle der Gefängnisse in der Gesellschaft verfasst. Diesen Text haben wir als Flyer verteilt, um auf den Themenkomplex des weltweiten Gefängnissystems aufmerksam zu machen.

Stell dir vor dir würde von einem Tag auf den nächsten die Kontrolle über dein Leben genommen werden. Viele Entscheidungen, beispielsweise wann du isst, wann du schläfst, wann du andere Menschen treffen kannst – und welche anderen Menschen –, ob und welche Bücher du lesen darfst würden von anderen Menschen für dich getroffen. Stell dir vor, du würdest gezwungen werden, für einen Tageslohn von rund 8 Euro zu arbeiten und irgendwer würde dich trotzdem zwingen, einen Teil dieses Geldes zu sparen. Stell dir vor, es gäbe Menschen die du jeden Tag sehen musst, von denen du abhängig bist und die dich jederzeit verprügeln können – und die das auch tun –, ohne dass das Konsequenzen für sie hat. Stell dir vor, du wärst krank aber darfst erst in einer Woche zum Arzt. Für viele Menschen weltweit ist das und Schlimmeres bittere Realität. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat und für viele sogar Jahr um Jahr.

Die Rede ist hier von Gefängnisinsass*innen. Die gibt es überall auf der Welt, in manchen Ländern gibt es mehr, in anderen Ländern weniger, aber immer handelt es sich um Menschen, die sich nicht konform zur jeweiligen Gesellschaft verhalten (haben), auffällig häufig auch um Angehörige marginalisierter Gruppen. Rund 10 Millionen Menschen befinden sich weltweit in Gefängnissen (vgl. World Prison Brief 2017), das sind rund 1,3 Promille (0,13 Prozent) der Weltbevölkerung. Dabei sind viele Menschen, die sich in gefängnisähnlichen Situationen befinden, etwa in diversen Lagern für flüchtende Menschen, in dieser Statistik überhaupt nicht berücksichtigt.

Die Situation der Gefangenen ist in jedem Gefängnis prekär! Viele Rechte, die andere Bürger*innen des jeweiligen Staates haben, gelten für Gefangene nicht. Auch grundlegende Menschenrechte werden systematisch missachtet. Ein Recht auf körperliche Unversehrtheit gibt es in Gefängnissen nicht: Die Haftbedingungen fördern Krankheiten, der Besuch bei einem*einer Ärzt*in ist oft erst Tage später möglich und die zahlreichen bekannten Übergriffe auf Gefangene durch das Gefängnispersonal sind keine Zufälle sondern ein zentrales Element des repressiven Gefängnissystems. Auch die Ausbeutung der Arbeitskraft Inhaftierter könnte kaum menschenverachtender sein: Arbeitsrechtliche Bestimmungen gelten im Gefängnis nicht. Die Gefangenen müssen für lächerlich niedrige Tageslöhne (teilweise etwa rund 8 Euro pro Tag) arbeiten, an vielen Orten dieser Welt werden sie für ihre Arbeit gar nicht bezahlt. Neben Arbeiten zur Aufrechterhaltung des Gefängnisbetriebs müssen viele Inhaftierte auch Arbeiten für Firmen verrichten, die von den sklavereiähnlichen Zuständen in den Gefängnissen gerne profitieren. Neben den Gängelungen durch das Gefängnissystem selbst erfahren Gefangene oft auch einen sozialen Ausschluss. Dabei sind es nicht nur bestehende Sozialkontakte, die oft unter aktiver Mitwirkung des Gefängnissystems im Laufe einer längeren Gefangenschaft zemürbt werden, sondern ein Gefängnisaufenthalt wirkt sich auch negativ auf zukünftige Sozialkontakte und Chancen der gesellschaftlichen Teilhabe aus: In vielen Bereichen der Wirtschaft werden Menschen später nicht mehr eingestellt werden, weil sie schon einmal im Gefängnis waren, viele Menschen verurteilen andere Menschen, die schon einmal im Gefängnis waren pauschal und wollen nichts mit ihnen zu tun haben und zuweilen stehen ehemaligen Strafgefangenen bestimmte Angebote der öffentlichen Hand nicht mehr zur Verfügung.

Das alles sind keine Missstände, die nur in den Gefängnissen von für menschenfeindliche Handlungen bekannten Diktaturen beobachtet werden können. Es sind Zustände, wie sie hier in Deutschland, sowie fast überall auf der Welt herrschen. Sicher gibt es qualitative Unterschiede zwischen den Gefängnissystemen der Länder, aber die hier beschriebenen Zustände sind eine Art Konsens aller Länder, von dem es fast nur Abweichungen nach unten gibt.

Gefängnisse sind ganz eindeutig eine gesamtgesellschaftliche Institution der Unterdrückung, selbst wenn weite Teile der Gesellschaft keinerlei Vorstellung von den Zuständen in Gefängnissen haben, befürworten sie diese. Übrigens ist es bei näherem Hinsehen keineswegs außergewöhnlich, dass die Menschen kaum eine Vorstellung davon haben, wie der Alltag in den Gefängnissen, die sie befürworten, aussieht. Beinahe alle konkreten repressiven und gewaltvollen Maßnahmen, die eine Gemeinschaft zu ihrem (vermeintlichen) Schutz vor „den Anderen“ gutheißt, finden hinter den Vorhängen statt. Das bedeutet es gibt kaum – und wenn doch, dann keinesfalls objektive – mediale Berichterstattung, das Ganze findet meist abseits der Blicke der Gesellschaft statt und die Betroffenen der Maßnahmen werden oft so sehr eingeschüchtert, dass sie es nicht wagen, von ihren Erfahrungen zu berichten oder sie werden daran anderweitig gehindert (beispielsweise können Personen, die abgeschoben werden über ihre Behandlung in Deutschland kaum mehr berichten, aber auch Menschen in Gefängnissen haben kaum Möglichkeiten, Menschen außerhalb von ihren Erfahrungen zu erzählen – teilweise weil sich einfach keine Person für sie interessiert, teilweise wird Post in der von Missständen in den Gefängnissen berichtet wird auch angehalten oder geht „verloren“). Tatsächlich interessieren sich die meisten Menschen aber schlicht nicht für die prekären Lebensbedingungen von Gefangenen. Und wenn sie doch einmal unfreiwillig von den Missständen in Gefängnissen erfahren, wischen sie diese Kenntnis beiseite, indem sie von einer „gerechten Strafe“ oder „Notwendigkeit“ sprechen.

Das Gefängnis als ein Ort der „gerechten Strafe“ steht übrigens nicht in Widerspruch zu dem verbreiteten Bekenntnis zu „Resozialisierung“. Vielfach bedeutet das schließlich nichts anderes als eine Person unter Ausübung von Zwang (beispielsweise durch einen Gefängnisaufenthalt oder durch Bewährungsauflagen) dazu zu bringen, sich konform zur umgebenden Gesellschaft zu verhalten. Neben der Tatsache, dass das eine autoritäre Maßnahme zur Normierung der Mitglieder einer Gesellschaft ist, ist auch klar, dass dieses Unterfangen bei vielen Menschen scheitern muss: So werden beispielsweise in Deutschland PoC schlicht aus rassistischen Gründen als nicht zur Gesellschaft gehörig bzw. „abweichend“ betrachtet. Das ist ein gesellschaftliches und institutionelles Problem. Deshalb werden diese Menschen stärker beobachtet, öfter kontrolliert und zum Teil auch aus willkürlichen Gründen verhaftet. Die Folge: Diese Personengruppen sind in Gefängnissen überrepräsentiert, was wiederum die in der Gesellschaft vorhandenen rassistischen Vorurteile befeuert. Insgesamt ist zu beobachten, dass in Gefängnissen zumeist ein deutlich größerer Anteil der Inhaftierten Angehörige marginalisierter Minderheiten sind, als Angehörige der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft.

Das gibt auch Aufschluss über die eigentliche Rolle von Gefängnissen in unserer Gesellschaft. Sie sind zugleich das wohl härteste Instrument zur gewaltsamen Unterdrückung von „abweichendem“ Verhalten das dem Staat zur Verfügung steht, sowie ein Ort für all diejenigen, die von der Gesellschaft verstoßen wurden. Ziel eines Gefängnisaufenthalts ist es immer, die inhaftierte Person zu brechen und sie der gesellschaftlichen Norm anzupassen. Ist das nicht möglich, beispielsweise weil die Person aus rassistischen Gründen im Gefängnis sitzt, wird das Gefängnis zu einem Ort der Zerstörung dieser Person: Der gewaltsame Gefängnisalltag erfüllt dann nur noch den Sinn, die betroffene Person herabzuwürdigen und sie dem Bild, das die Gesellschaft von ihr hat, gleichzumachen. Für diese Personen ist das Gefängnis der Ort, an den sie von einer Gesellschaft, in der es (scheinbar) keinen Platz für sie gibt, verwiesen wurden.

Alle Gefangenen sind politische Gefangene!

Gegen Zäune, Mauern und Grenzen: Die Ordnung stören!

Am 25. August findet um 14 Uhr am Europaplatz in München eine Großdemonstration gegen die Kriminalisierung und Verhinderung von Seenotrettung durch die deutsche Regierung und andere EU-Regierungen statt. Anlässlich dessen rufen wir dazu auf, gegen die Abschottungspolitik der EU, den Rechtsruck in Deutschland und anderen EU-Ländern und den Rassismus der deutschen Gesellschaft aktiv zu werden. Ob durch Beteiligung an der Demonstration oder auf andere Art und Weise, Hauptsache ihr leistet Widerstand gegen die rassistische Ordnung in Deutschland und der EU!

Im Mittelmeer sind im Juni dieses Jahres nach Angaben der International Organization for Migration 629 Menschen ertrunken. Das sind mehr Menschen als von Januar bis einschließlich Mai zusammen. Zugleich wird die Arbeit privater Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeerraum durch EU-Staaten unter aktiver Mitwirkung Deutschlands massiv gestört, indem Schiffen das Einlaufen in Häfen verweigert wird, Schiffe in Häfen festgesetzt werden und Crewmitglieder angeklagt werden.

Abschottungspolitik der EU

Hinter dieser Praxis steckt eine politische Agenda: Sie ist Teil der Abschottungspolitik der EU. Weil sich viele Menschen genötigt sehen über das Mittelmeer nach Europa zu flüchten – vor allem deshalb, weil die EU und ihre Staaten sichere Fluchtwege blockieren – versucht mensch nun auch eine Flucht nach Europa über das Mittelmeer zu unterbinden, nötigenfalls auch zum Preis von Tausenden Ertrunkenen!

Doch die Abschottungspolitik der EU kennt neben der Verhinderung von Seenotrettung im Mittelmeer noch zahlreiche weitere menschenverachtende Praktiken, mit denen versucht wird, Flüchtende Menschen um keinen Preis in die EU zu lassen und diejenigen, denen das dennoch gelungen ist, schnellstmöglich wieder loszuwerden.

Innerhalb wie außerhalb der EU-Grenzen werden flüchtende und geflüchtete Menschen in Lagern eingesperrt und müssen dort in aller Regel unter menschenverachtenden Bedingungen leben. Ziel dieser Lager ist es, Flüchtende außerhalb der EU-Grenzen festzuhalten, bzw. – wenn sie sich innerhalb der EU-Grenzen befinden – möglichst schnell wieder abschieben zu können.

Selbst hier in Deutschland, also weit innerhalb der EU-Grenzen, gibt es zahlreiche Lager deren Ziel die Isolierung Geflüchteter von der übrigen Gesellschaft ist. So ist es einerseits deutlich leichter für die zuständigen Behörden, Personen die abgeschoben werden sollen zu finden, andererseits finden brutale Abschiebepraktiken, die zum Teil mit einem martialischen Polizeiaufgebot einhergehen, sowie auch zahlreiche andere Übergriffe der Polizei auf Geflüchtete abseits der Öffentlichkeit statt. Mit der Einführung sogenannter AnkER-Zentren (Abk. für „Zentrum für Ankunft, Entscheidung, Rückführung“) wird nicht einmal mehr versucht, den Zweck dieser Lager zu verschleiern. Stattdessen wird er bereits im Namen genannt.

Zwischen 20.000 und 25.000 Personen werden jährlich aus Deutschland abgeschoben. Das bedeutet, sie werden gegen ihren Willen in ein anderes Land (zumeist in das Land, aus dem sie geflohen sind) verschleppt. Dafür scheuen Bundes- und Landesregierungen weder Aufwand noch Kosten. So wird eigens für diesen Zweck etwa einmal im Monat ein Flugzeug gechartert. Kosten: Rund 300.000 Euro pro Flugzeug, zuzüglich zehntausender Euro Personalkosten. Und auch die eigenen „Regeln“, die der Staat sich für Abschiebungen gesetzt hat, nämlich nur in „sichere Herkunftsländer“1 abzuschieben, werden konsequent ignoriert, wenn Menschen in Kriegsgebiete abgeschoben werden, beispielsweise nach Afghanistan.

Rechtsruck in Deutschland

Die Politik der Abschottung Europas vor allem gegenüber dem afrikanischen Kontinent, der arabischen Halbinsel und Südasien kommt dabei nicht von ungefähr. Sie ist Teil eines europaweiten gesellschaftlichen Rechtsrucks und einem damit einhergehenden autoritären Umbau der EU-Staaten. In den letzten Jahren ist es in Deutschland, aber auch in vielen anderen EU-Staaten, in denen diese Entwicklung zum Teil sogar noch weiter fortgeschritten ist, einer Reihe rechter Akteur*innen gelungen, an gesellschaftlicher und politischer Relevanz zuzulegen und zahlreiche Menschen, die ihre Ansichten teilen, zu mobilisieren. Diese Entwicklung führte unter anderem zu der Etablierung der AfD als parlamentarische Kraft ab dem Jahr 2013, aber auch zu einer deutlichen Verschiebung der Politik des gesamten Parteinspektrums nach rechts.

Unter der Federführung der CDU/CSU und mit aktiver Beteiligung der SPD wurden in den letzten Jahren mehrere rassistische Gesetze wie die sogenannten „Integrationsgesetze“ verabschiedet. Besonders sticht dabei das bayerische „Integrationsgesetz“ hervor, das von den hier lebenden Menschen unter Androhung von Strafe eine Anpassung an eine imaginierte Norm fordert. Das wirft für viele marginalisierte Minderheiten, darunter nicht nur geflüchtete Menschen, sondern auch Homosexuelle, Trans*-Menschen, politische Oppositionelle, Muslima*Muslime und viele andere, Probleme auf: Sie sollen ihre Identitäten zugunsten einer bayerischen Identität aufgeben, andernfalls können sie gezwungen werden einen „Integrationskurs“ zu belegen.

Beinahe zeitgleich begann auch eine bis heute andauernde Welle der inneren Aufrüstung. Bestes Beispiel: Die derzeitigen Neuauflagen der Polizeigesetze der Länder. Diese räumen polizeilichen Behörden geheimdienstliche Befugnisse ein, erlauben Präventivhaft von sogenannten „Gefährder*innen“, statten die Polizei mit Kriegswaffen wie beispielsweise Handgranaten aus und reduzieren dabei vielfach die bisher notwendigen Hürden zum Einsatz ähnlicher Maßnahmen.

Eingesetzt werden die mit diesen Gesetzen geschaffenen neuen Befugnisse vor allem gegen Geflüchtete. Insgesamt 11 Personen wurden in Bayern seit Einführung der ausgeweiteten Präventivhaft für mehr als zwei Wochen eingesperrt. Bei allen handelte es sich um Geflüchtete. Das ist natürlich kein Zufall. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann wurde in den letzten Jahren nie müde, von einer angeblichen Gefahr, die von Geflüchteten ausgehe, zu fabulieren. Überhaupt sei „islamistischer Terror“ die größte Gefahr für das Land, und zwar deshalb, weil „islamistische Gefährder“ als Geflüchtete über die deutsche Grenze kommen würden. Die Zahl „islamistischer“ Gewalttaten widerspricht dieser Ansicht dagegen deutlich. In dem Land, in dem ein Neonazi-Netzwerk das sich selbst „Nationalsozialistischer Untergrund“ nannte mindestens 10 Morde begehen konnte und dabei vom Verfassungsschutz mit Geld- und Waffen versorgt und gedeckt wurde und wird, während Ermittlungsbehörden und Medien die Opfer verhöhnten, fürchtet mensch sich also vor islamistischem Terror: Herrmann und die CSU betreiben folglich die gleiche rassistische Hetze, die auch von der AfD betrieben wird. Doch sie haben momentan die politische Macht, ihren Rassismus in Gesetzen zu manifestieren.

Folge dieser Politik ist die bewusste Ausgrenzung von Geflüchteten und Migrant*innen, von Muslima*Muslimen und People of Color innerhalb Deutschlands aufgrund von Rassismus. Außerhalb der EU-Grenzen macht sich diese Politik als Politik der Abschottung bemerkbar. Die Folge sind tausende Tote, die auf der Flucht sterben, weil die rassistischen Regierungen der EU verhindern wollen, dass sie die Grenzen überschreiten, hunderttausende Flüchtende, die unter menschenfeindlichen Bedingungen in Lagern innerhalb wie außerhalb der EU leben, sowie zehntausende Tote in den Krisengebieten, aus denen so viele Menschen fliehen, weil es für sie keine Perspektive gibt, eine Flucht in die EU zu wagen. Der Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist tödlich!

Werdet aktiv!

Wir rufen aus diesem Grund dazu auf, gegen die rassistische Ordnung der deutschen Gesellschaft und der EU aktiv zu werden. Unterstützt Flüchtende und Geflüchtete bei ihren Kämpfen für ein Bleiberecht und gegen den Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft, unterstützt die zahlreichen Organisationen, die diese Kämpfe finanziell und personell unterstützen, unterstützt die Seenotrettungsorganisationen, die sich im Mittelmeerraum trotz aller Hürden ganz praktisch für ein Recht auf Leben einsetzen.

Aber all das ist nicht genug, denn auch wenn ihr die Betroffenen bei ihren Kämpfen unterstützt, so bleibt die rassistische Ordnung, die diese Zustände schafft trotz allem bestehen. Wir glauben, dass eine Änderung der Verhältnisse nur gegen die herrschende Ordnung gelingen kann. Deshalb rufen wir auch dazu auf, die Abschottungspolitik Deutschlands und der EU aktiv zu stören und Widerstand gegen die rassistische Ordnung zu leisten. Forderungen an Staat und Regierung werden im Großen und Ganzen immer wirkungslos bleiben, wenn wir uns nicht selbst dazu ermächtigen diese durchzusetzen. Dabei kann es notwendig sein, den Rahmen der Legalität zu sprengen und die Autorität des Staates infrage zu stellen. Das kann beängstigend wirken, doch auch wenn ihr euch der Autorität des Staates im Kleinen erfolgreich widersetzt, werdet ihr sehen, was für ein empowerndes, ja befreiendes Erlebnis das sein kann. Deshalb organisiert euch und leistet gemeinsam Widerstand gegen die rassistische Ordnung um diese unerträglichen Zustände endlich zu beenden!

  1. Die Bezeichnung „sicheres Herkunftsland“ ist ohnehin irreführend: Schließlich gibt es kein Land, das für alle Menschen „sicher“ in dem Sinne, dass deren Rechte dort geachtet werden, ist. In Ländern in denen Frieden herrscht können trotzdem Angehörige von Minderheiten oder politische Gegner*innen verfolgt werden. Zugleich können die Lebensumstände von Menschen in einem Land ebenfalls äußerst prekär sein, obwohl das Land durchschnittlich als verhältnismäßig reich gilt.

Normen überwinden, Staatsherrschaft durchbrechen

Aufruf zur Demonstration „München gegen Polizeigewalt“ am 05. August, 16 Uhr Münchner Freiheit

Polizeigewalt ist in Deutschland für viele Menschen bittere Realität. Für linksradikale Aktivist*innen, Obdachlose, Persons of Color, diejenigen, die von der Gesellschaft als Verbrecher*innen abgestempelt werden, kurz: Für alle diejenigen, die irgendwo am Rand der Gesellschaft stehen. Dabei ist die Polizei längst nicht die einzige Repressionsbehörde des Staates, wenngleich sie für viele Menschen die sichtbarste Instanz darstellt. Justiz, Gefängnisse und Verwaltungsämter sind weitere, explizite Repressionsbehörden des Staates. Sie vervollständigen das Instrumentarium des Staates zur Umerziehung aus der Reihe gefallener Bürger*innen oder derer, die sich anmaßen, sich trotz ihres Nicht-Bürger*innen-Status auf dem Territorium dieses Staates aufzuhalten, um weitere repressive Elemente.

Doch die Tatsache, dass Menschen „umerzogen“ werden müssen, um irgendeiner „Norm“ zu genügen, gibt bereits Hinweise darauf, dass es neben den als solche auftretenden Repressionsbehörden auch internalisierte Strukturen in der Gesellschaft gibt, die überhaupt erst die Grundlage für Repression schaffen. Durch die Familie, den Schulunterricht, die an Universitäten vermittelte Lehre, die in Büros herrschende Ideologie, in den Medien vermittelten Normen und viele weitere Einrichtungen, sogenannte Ideologische Staatsapparate,1 werden den Menschen in einem Staat „Normen“ vermittelt, die sie dann wiederum reproduzieren. So sind repressive Eingriffe des Staates in aller Regel gar nicht notwendig, nur dann, wenn Menschen diesen Normen nicht entsprechen, wird ein Eingreifen der staatlichen Repressionsbehörden notwendig.

Es gibt in unserer Gesellschaft also weitaus mehr repressive Gewalt als nur die der Polizei, die Gesellschaft reproduziert diese Repression in Form der Ideologie ihres Staates selbst und ist nur dort auf die repressiven Organe eben jenes Staates angewiesen, wo Menschen sich zuvor bereits über internalisierte Repressionsstrukturen hinweggesetzt haben. Um diese Menschen dann zurück in die gesellschaftlichen „Normen“ zu pressen bedarf es dann eben solch weitgehender Eingriffe durch den Staat.

Vor diesem Hintergrund lassen sich die bayerischen und deutschen Gesetzesverschärfungen im Zusammenhang mit den Protesten in Hamburg als ein verzweifelter Versuch eines ins Wanken gebrachten Staates deuten, der sich nur noch damit zu helfen vermag, autoritärer zu werden. Aber auch wenn mensch sicherlich unterstellen kann, dass die Proteste in Hamburg gezeigt haben, dass auch ein hochgerüsteter Staat temporär ins Wanken gerät, wenn er von einer großen Menge an Menschen radikal in Frage gestellt wird, wäre es eine gewaltige Überhöhung der Proteste in Hamburg zu sagen, der deutsche Staat befände sich momentan in einer Krise. Die Proteste in Hamburg haben eben auch gezeigt, dass rechte Medien in Deutschland immer noch Diskurshoheit haben.

Die nun eingeleiteten Gesetzesverschärfungen dienen dazu, das Sammelsurium an Repressionsmöglichkeiten zu erweitern und damit vor allem einzuschüchtern. Die Rebellion gegen „Normen“, das Anprangern von Diskriminierungen und die Sichtbarmachung von Brüchen mit diesen „Normen“  ist also auch weiterhin ein wichtiges Element zur Abschaffung des Staates, doch wo der Staat den Konflikt auf eine neue Stufe hebt, müssen auch wir bereit sein, ihm auf dieser Stufe entgegenzutreten.

Der Staat verhindert angemeldete, „legale“ Protestformen? Schön, wir finden andere Wege unseren Protest kund zu tun. Der Staat rüstet auf, um seine Feind*innen rund um die Uhr zu überwachen? Schön, wir finden Wege, diese Überwachung zu umgehen und greifen die Institutionen des Staates an, mit denen er gegen uns vorgeht. Denn für uns ist die Rebellion gegen Herrschaftsverhältnisse mehr als nur ein Angriff auf den Staat. Für uns ist die Rebellion performativer Akt, denn in ihr liegt unser Weg zu individueller Freiheit.

Zugleich jedoch bietet uns die Aufrüstung des Staates auch Möglichkeiten Herrschaft für all diejenigen sichtbar zu machen, denen es bislang nicht gelungen ist, die „Normen“ unserer Gesellschaft zu überwinden. Während es ein langwieriger Prozess ist, internalisierte Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaft aufzuzeigen, gibt uns ein autoritärer Staat die Möglichkeit explizite Herrschaftsverhältnisse, die Asymmetrie der Gewalt und konkrete Fälle der Repression deutlich und ohne jeden Zweifel sichtbar zu machen. Deshalb wollen wir unsere Wut über diese Zustände auf die Straße tragen und anderen ebenso wie uns selbst beweisen: Wir lassen uns nicht einschüchtern.

Nieder mit dem Staat und seinen Institutionen!

05. August, 16 Uhr. Münchner Freiheit.

Dieser Aufruf wurde zuerst veröffentlicht bei différⒶnce muc.

Fußnoten

1 Vgl. Louis Althusser. Ideologie und Ideologische Staatsapparate.

Ein Fötus ist (k)ein Zellhaufen? – Plädoyer für eine differenzierte Sicht auf Schwangerschaftsabbrüche

Singend und betend ziehen sogenannte „Lebensschützer*innen“ durch die Städte, postieren sich singend und betend vor Abtreibungskliniken und Beratungsstellen und terrorisieren Mitarbeitende, Beratung suchende Personen sowie Personen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen wollen. Sie werfen ihnen „Kindsmord“ vor, sprechen von „Massentötungen“, von „Orten des Tötens“. Auch wenn ihre Protestform skurill ist, ihre Methoden den Schwangeren gegenüber emotionale Erpressung, ihre Worte drastisch, ihre Vergleiche (zum Beispiel mit dem Holocaust) morbide und ihre Begründungen aus antireligiöser wie agnostischer und atheistischer Perspektive absurd, so erinnern sie doch an die Zweifel, die jede Überlegung zu Schwangerschaftsabbrüchen begleitet. Handelt es sich bei einem Schwangerschaftsabbruch um ein „Kind“, das aus der Gebärmutter geholt wird? Ist eine Abtreibung dementsprechend ein „Mord“? Hat eine schwangere Person das Recht verwirkt, über ihren Körper zu bestimmen und eine Schwangerschaft abzubrechen, wenn sie diese nicht möchte?

Schwangerschaftsabbruchs-Gegner*innen wie Befürworter*innen gehen wegen dieser Fragen auf die Barrikaden. Befürworter*innen sagen „nein“, kein Kind, kein Mord und volle Selbstbestimmung über den eigenen Körper. „Ein Fötus ist nur ein Zellhaufen“, so wird provokant auf (christlich-fundamentalistische) Abtreibungsgegner*innen reagiert. Doch ist das die richtige Antwort auf deren Kritik? Die Worte von sogenannten „Lebensschützer*innen“ einfach ins Gegenteil zu verkehren, „Kind“ durch „Zellhaufen“ zu ersetzen, Schwangerschaftsabbruch von einem „Verbrechen“ zu einem fundamentalen „Frauen*-/Menschenrecht“ zu erklären, also quasi vor die ganze Gleichung ein Minus zu setzen und ethische Bedenken beiseitezuwischen? Nein, diese Antwort versperrt die Möglichkeit eines differenzierten Blicks auf Schwangerschaftsabbrüche und einer gänzlich anders gelagerten Kritik gegenüber „Lebensschützer*innen“.

Was nicht geleugnet werden kann und wo den Schwangerschaftsabbruch-Gegner*innen Recht gegeben werden muss, ist, dass Schwangerschaftsabbrüche ethisch nicht unbedenklich sind. Schließlich wird sich tatsächlich dagegen entschieden, eine bereits befruchtete Eizelle auszutragen und zu einem Kind wachsen lassen. Natürlich kann ich behaupten, dass ein Kind erst mit Vollendung der Geburt zum Kind wird. Genauso kann ich behaupten, das Kind sei ab der Verschmelzung von Samen- und Eizelle bereits ein Kind. Die berühmte „Paradoxie des Haufens“: Ab wieviel aufeinander gestapelten Sandkörnern werden einzelne Sandkörner zum Haufen? Zwei? Drei? Fünf? Wie wäre es, statt dieser nicht beantwortbaren Frage einen anderen Blick auf das Thema Schwangerschaftsabbruch zu werfen?

Eine zentrale Forderung von Feminist*innen und Antisexist*innen ist die nach Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Aber was heißt „Selbstbestimmung“? Wie „selbstbestimmt“ kann ein Mensch sein, wenn die Vorstellung, ein Kind, das eine Behinderung haben wird, auszutragen und großzuziehen, zu einer solchen Überforderung führt, dass ein Schwangerschaftsabbruch der einfachere Weg zu sein scheint? Sind hier die gesellschaftlichen Normvorstellungen, dass ein Kind „Hauptsache gesund“ zur Welt kommen soll, die damit einhergehende Enttäuschung und Angst vor den Blicken der anderen, die „normale Kinder“ gezeugt haben, nicht alles andere als Selbstbestimmung? Oder die Person, die über eine Abtreibung nachdenkt, weil sie sich finanziell selber kaum über Wasser halten kann und*oder psychische/physische Probleme hat und*oder keine Familie hat, die sie unterstützen könnte, und*oder eine*n Partner*in, der*die ebenso Schwierigkeiten hat oder auch nicht existent ist? Oder die, die 14 Jahre alt ist und bisher nicht einmal für sich selbst sorgen musste? Oder die Person, die Opfer sexueller Gewalt geworden und dadurch schwanger ist, und bei der jeder Gedanke an das Kind triggernd wirkt? Oder diejenige, die von Abschiebung bedroht ist? Alles Menschen, die sich durch äußere Umstände nicht dazu in der Lage fühlen oder es faktisch nicht sind, sich um ein Kind zu kümmern. Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden. Was dabei deutlich wird: Schwangerschaftsabbrüche haben etwas mit den Mitmenschen zu tun. Beziehungsweise mit ihrer Abwesenheit. Und damit mit Isolation.

Eins der zentralen Probleme bei all diesen Situationen ist, dass von schwangeren Personen erwartet wird, dass sie allein in erster und letzter Instanz für das Kind verantwortlich sind. Im Zweifelsfall – Partner*in gibt es nicht (mehr), die Eltern oder andere Familienangehörige wenden sich ab oder gibt es nicht – bleibt die Fürsorge des Kindes an der schwangeren Person hängen. Alleine. Damit wird ein Kind zu einer enormen Einschränkung und Belastung in der Gestaltung des eigenen Lebens bis hin zur vollkommenen Überforderung und – gefühlten oder tatsächlichen – Unmöglichkeit, es aufzuziehen. Die Rolle der biologischen Mutter* wird dermaßen überhöht – als wichtigster Bezugspunkt und „perfekte“ Versorgungsinstanz eines Kindes –, dass viele Menschen an diesen Erwartungen scheitern (müssen). Auch wenn es die Möglichkeit gibt, ein Kind zur Adoption frei- oder in eine Pflegefamilie zu geben, so wird die schwangere Person immer die bleiben, die ihr Kind im Stich gelassen hat – sehr viel mehr als der schwängernde Part – und das Kind wird immer das sein, das unerwünscht war und dessen Mutter* es im Stich gelassen hat. Dadurch, dass ein Kind die Verantwortung einer statt vieler Personen ist, dass die Umstände „passen“ müssen, damit eine Schwangerschaft nicht zum Desaster wird – im besten Fall Ehe, Eigenheim und festen Job mit genügend Kohle –, ist es verständlich und zwangsläufig, wenn der einzige Ausweg aus dem Dilemma der nicht passenden Umstände der zu sein scheint, den „Fremdkörper“, der das Leben der betroffenen Person zerstören wird, möglichst schnell und heimlich, bevor es andere mitbekommen, loszuwerden. Wenn es dann dafür keine professionellen Strukturen wie Ärzt*innen, Beratungsstellen etc. dafür gibt, dann wird es halt mithilfe kreativer und häufig gefährlicher bis für die schwangere Person tödlicher Ideen entfernt, oder direkt nach der Geburt getötet. Deswegen sind diese Strukturen so wichtig.

Schwangerschaftsabbrüche wird es immer geben. Auch in einer idealen Gesellschaft, in der all die Situationen, wie ich sie oben geschildert habe, nicht mehr vorkämen, wird es medizinisch notwendige Abtreibungen geben. Denn warum sollte das Leben des Kindes mehr wiegen als das der biologischen Mutter*? Auch ganz ohne menschliche Einmischung kommt es zu Fehlgeburten, wenn es beim Schwangerschaftsprozess Komplikationen gibt. Kinder zu idealisieren und zu überhöhen auf Kosten des leiblichen wie auch psychischen Wohlergehens der biologischen Mutter* – dessen Missachtung zu ihrem* Tod führen kann – ist nicht mit einem ethischen Modell, das allen Menschen gleiche Rechte zuspricht, vereinbar.

Trotzdem sind Schwangerschaftsabbrüche nicht zu verharmlosen und sicher nicht zu verherrlichen, und das Recht darauf, die Schwangerschaft abbrechen zu können, eigentlich nicht einmal als emanzipatorischer Durchbruch zu feiern. Die entsprechenden Strukturen zur sicheren Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen und die Entkriminalisierung von abtreibenden Personen – was bisher in Deutschland dank § 218 StGB immer noch nicht geschehen ist – sind notwendige Schadensbegrenzungen in einer Gesellschaft, die Schwangerschaft als das Problem der schwangeren Person ansieht und überhaupt als „Problem“ – mit Ausnahme der geschilderten „perfekten“ Lebenssituation. In einer Gesellschaft, die die Kleinfamilie überhöht und biologische Blutsbande – mensch ist versucht, hier das Wort „rassisch“ zu verwenden – zum Kern einer Solidarstruktur von Menschen erklärt. Die Verwandten sind zur Unterstützung da. Pech, wenn ihr euch nicht versteht oder wenn du keine hast! Pech, wenn du keine*n Partner*in hast, die*der sich mit dir um dieses Kind kümmert, auch wenn er*sie es vielleicht sogar mitgezeugt hat. Ich plädiere nicht dafür, dass Kinder keine feste(n) Bezugsperson(en) mehr haben sollen. Ich plädiere aber dafür, dass diese unabhängig von Verwandtschaftsgraden – Rasse? – ausgewählt werden können, dass das Leben in Kleinfamilien ersetzt wird durch das Leben in Kommunen (oder Wohngemeinschaften, welches Wort auch immer weniger „gefährlich“ klingt), dass sich also für eine schwangere Person nicht die Perspektive zwischen Schwangerschaftsabbruch und vollständiger Isolation auftun muss. Dass eine Person, die sich um ein Kind nicht kümmern kann, aber halt schwanger ist, sich nicht darum kümmern muss. Dass sie und das Kind aufgefangen werden und nicht Diskriminierung, Tratsch, Mitleid oder sonstigen ausschließenden Reaktionen anderer Menschen ausgesetzt sind, dass die eine als „schlechte Mutter*“ und das andere als „ungeliebtes Kind“ abgestempelt werden. Damit eine solche – befreite – Gesellschaft eines Tages möglich wird, muss sie noch mit viel mehr Strukturen und Vorstellungen brechen, die auszuführen leider den Rahmen dieses Artikels sprengen würden.1

Eine solche ideale Gesellschaft würde Schwangerschaftsabbrüche, aus medizinischen wie auch aus anderen Gründen, trotzdem nicht verhindern – das ist auch nicht das Ziel. Den Wunsch einer schwangeren Person, diese Schwangerschaft nicht durchlaufen zu müssen, ernst zu nehmen und ihr die Erfüllung dieses Wunsches zu ermöglichen, ist essenziell für ein solidarisches Miteinander. Doch für keinen Menschen ist die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch eine leichte. Und viele dieser Entscheidungen sind gesellschaftlich bedingt. Sie entpuppen sich als ein verzweifeltes Verhindern der gesellschaftlichen Konsequenzen einer Schwangerschaft „zum falschen Zeitpunkt“ oder „unter den falschen Umständen“. Diese gesellschaftlichen Strukturen, die zu Isolation und auch zu gravierenden Schäden für Kind wie Mutter* führen können, gilt es zu kritisieren und zu bekämpfen. In keinster Weise soll das Engagement für eine Abschaffung des § 218 und für die Einrichtung von Strukturen zum Schwangerschaftsabbruch abgelehnt werden. Doch der Ruf nach Selbstbestimmung durch Feminist*innen und Antisexist*innen greift zu kurz.

Damit kommen wir zurück zu den (christlich-fundamentalistischen) Schwangerschaftsabbruchs-Gegner*innen. Sie haben nicht ganz Unrecht mit ihren ethischen Bedenken, jedoch aus den falschen Gründen2. Sie richten sich gegen die Falschen. Sie kriminalisieren und verurteilen die schwangeren Menschen, die zumeist Opfer gesellschaftlich repressiver Strukturen sind, statt genau diese zu kritisieren. Sie üben heftigen Druck durch miese psychologische Tricks – wie das Verteilen von Plastikföten – auf die Menschen aus, die eh schon verzweifelt sind. Zusätzlich sind sie Teil dieser gesellschaftlichen Strukturen, die häufig erst den Wunsch nach einem Abbruch hervorrufen. Sie vertreten ein repressives heteronormatives – rassisches? – Kleinfamilienbild, propagieren ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper und die Unterdrückung der eigenen Sexualität. Sie sind heutzutage vielleicht nur noch ein Randphänomen. Doch sie sind (skurilles) Symptom viel weiter verbreiteter und tief sitzender Vorstellungen und Erwartungen. Sich ihnen vor Abtreibungskliniken und vor Beratungsstellen entgegenzustellen, ist wichtig, um die Schwangeren vor diesem zusätzlichen Druck zu beschützen und die erkämpften Rechte zu verteidigen. Sie zu kritisieren geht auch ohne Verharmlosung der unterschiedlichen Dimensionen eines Schwangerschaftsabbruchs. Eine radikal antisexistische und feministische Perspektive darf jedoch nicht bei der Schadensbegrenzung stehen bleiben, sondern muss die Gesellschaft als Ganzes fundamental in Frage stellen und bekämpfen.

Fußnoten

1 Als Beispiele seien der Tausch- und Eigentumsgedanke, der des egoistischen Wesens des Menschens, Arbeit oder Geld genannt.

2 Zum Beispiel, dass ein Schwangerschaftsabbruch eine Sünde sei, weil der Mensch „ein Geschöpf Gottes“ sei und damit jede befruchtete Eizelle auch eins, und ja, deswegen nicht „umgebracht“ werden dürfe. (vgl. z. B. http://www.kostbare-kinder.de/, um einen Eindruck christlich-fundamentalistischer Argumentationen zu bekommen). Eine ausführliche (christlich-fundamentalistische) Religionskritik würde leider ebenfalls den Rahmen dieses Artikels sprengen.

Gegen G20 – Aus Gründen?

Wir teilen den Aufruf „Gegen G20 – Aus Gründen?“ des Projekts différⒶnce muc zu den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg.

Zum G20-Gipfel in Hamburg hat sich vielfältiger Protest angekündigt. Dieser äußert sich nicht nur in den unterschiedlichen Protestformen, die von klassischen Gipfelstürmen über Critical Mass Aktionen bis zu einer Blockade des Hafens reichen sollen, sondern gerade in seinen unterschiedlichen Inhalten. In den Inhalten? Wer in den letzten Wochen und Monaten Aufrufe gelesen, Mobi-Videos geschaut oder Veranstaltungen zum Protest gegen den G20-Gipfel besucht hat, wird sich fragen, welche Rolle Inhalte hier eigentlich tatsächlich noch spielen! Mit wenigen Ausnahmen werden in den unterschiedlichen Aufrufen immer wieder die gleichen Phrasen wiederholt: „Die Mächtigen“,1 „die Herrschenden“2 treffen sich, um in den „Hinterzimmern“3 um eine „Neuaufteilung der Welt“4 zu „pokern“,5 liest mensch dort in unterschiedlich stark ausgeprägten Formulierungen. Auch Mobi-Videos sprechen – zugegeben, das ist kein Phänomen der G20-Mobilisierung, sondern ein grundsätzliches Phänomen in der Mobilisierung der radikalen Linken – eine einheitliche Bildersprache: Vermummte Personen, die mit Pyrotechnik und Transparenten für ein Gruppenbild posieren, (männliche) Gangster-Rapper, die entweder selbst vermummt für die Kamera posieren, oder sich mit einer Horde vermummter Personen filmen lassen, oder Videos, die vermummte Personen beim Anbringen von Graffity zeigen. Allesamt Macker-Videos, wie sie für die Mobilisierung der radikalen Linken leider typisch sind.6

Die ARD nahm genau diese Videos als Anlass, um die Proteste gegen G20 zu verunglimpfen und „Linksextreme“ weit über das übliche Maß hinaus zu kriminalisieren. Eigentlich ein amüsanter Effekt, zumal Vermummung und Pyrotechnik diesem Video-Schnipsel zufolge ein eindeutiges Indiz für „Gewalt“ seien.7 Dennoch muss mensch sich fragen, welche Bilder dem Fernsehen da geliefert wurden und inwieweit derartige Bilder der eigenen Sache schaden. Die ARD hat nicht erkannt, dass das eigentliche Problem der gezeigten Szenen nicht in einem Aufruf zur Gewalt liegt, sondern in mackerhaftem Verhalten und dem Identitätsgefühl (das dabei exklusiv wirkt), das mit diesen Videos vermittelt werden soll. Ich möchte hier noch einmal betonen, dass es mir hier nicht darum geht, Darstellungen von Gewalt (die in den von der ARD zitierten Mobivideos allerdings nicht vorkommen), Sachbeschädigungen, usw. im Allgemeinen zu kritisieren, sondern vielmehr darum, für eine differenziertere Darstellung solcher Handlungen und eine weniger identitätsstiftende Vermittlung zu werben.

Nimmt mensch von all den Mobilisierungsvideos einmal all die Propagandavideos autoritärkommunistischer Organisationen, die für eine Diktatur des Proletariats werben, aus,8 bleibt dennoch der Eindruck eines kollektiven Wir-Verständnis zurück. Doch die Bilder dieses „Wir“ bleiben exklusiv: Im Mittelpunkt der Videos stehen (mit wenigen Ausnahmen9) Personen, die vom Betrachter als Cis-männliche Personen wahrgenommen werden, Frauen* bleiben, obwohl das in vermummtem Zustand natürlich schwierig zu unterscheiden ist, aber es geht hier ja um das in den Videos vermittelte Bild,10 die Ausnahme; indem körperliche Auseinandersetzungen mit der Polizei gezeigt oder angedeutet werden, wird vermittelt, dass nur körperlich entsprechend fitte Menschen und auch nur diejenigen, die bereit sind, entsprechende Risiken einzugehen, in der Lage dazu sind, die im Video beworbene Protestform zu wählen.

Das sind alles Probleme, die nicht neu sind, sondern in den meisten Mobilisierungsvideos der radikalen Linken auftreten, nichts desto trotz ist es wichtig, diese auch jetzt, anlässlich des G20-Protests zu benennen! Trotzdem sind diese Probleme hinsichtlich der Darstellung häufig verknüpft mit inhaltlichen Problemen: Auch wenn nun wirklich nicht in jedem Aufruf aufs neue festgestellt werden muss, dass Kapitalismus nun einmal Scheiße ist, entbehren viele der Aufrufe zu G20 jedweder ernstzunehmenden Kapitalismuskritik. Vielmehr werden die bei G20 anwesenden Regierungsvertreter*innen darin mehr oder weniger stark alleine für Kriege, Armut, Umweltzerstörung und den Kapitalismus im Allgemeinen verantwortlich gemacht. Aufrufe wie der des Internationalistischen Blocks nehmen G20 auch zum Anlass, ihrem israelbezogenen Antisemitismus Raum zu verschaffen, wenn sie „Unterstützung des Widerstandes gegen Besatzung und Kolonisierung! Internationale Solidarität mit den Befreiungskämpfen in Palästina und Kurdistan!“11 fordern.

Tatsächlich scheint es schwer, eine Kapitalismuskritik, die den Kapitalismus als ein System, das von allen Menschen, nicht nur von den Regierenden und vermeintlichen Gewinner*innen aufrechterhalten wird und in dem Herrschaft von einem komplexen System mit zahlreichen Rückkopplungen ausgeübt wird und nicht von eine*r uneingeschränkten Machthaber*in, begreift, anlässlich des G20-Gipfels auf die Straße zu tragen, zumindest dann, wenn mensch dabei explizit rechtfertigen möchte, den Gipfel zu stören/zu verhindern. Da ist es auf jeden Fall viel leichter, zu behaupten, Merkel, Trump, Putin, Erdogan und all die anderen Regierungsvertreter*innen seien Schuld an den Problemen des Kapitalismus oder würden wenigstens die Verantwortung für diese tragen. Aber einfacher bedeutet eben nicht richtiger und führt, wie an zahlreichen Aufrufen erkennbar wird, leider zu einer stark verkürzten Kapitalismuskritik.

Einen anderen Weg möchte das Bündnis „Shutdown the logistics of capital“12 gehen. Statt den Ort der G20-Konferenz selbst aufzusuchen, soll der Hamburger Hafen blockiert werden, mit dem Ziel, die Logistik lahm zu legen. Unabhängig davon, welche Bedeutung für den Kapitalismus mensch nun der Logistik einräumt, ist das Ziel also wirtschaftlichen Schaden zu generieren und dabei die Weltbühne, die G20 in Hamburg eröffnet, zu nutzen.

In Hamburg geht es also darum, eigene Positionen, auch solche, die innerhalb der radikalen Linken nur eine Minderheit darstellen, sichtbar werden zu lassen. Es geht darum, eine kritische Distanz zum linken Konsens zu wahren und trotzdem für eigene Positionen zu werben, denn gerade dann, wenn mensch die „Massen“ nicht mittels gefährlicher Propaganda, sondern mithilfe von Inhalten überzeugen möchte, muss der Dialog mit anderen Strömungen der radikalen Linken ebenso wieder aufgenommen werden, wie auch der Dialog mit der Gesellschaft im Allgemeinen. Und nicht zuletzt geht es in Hamburg und bei Veranstaltungen dieser Art im Allgemeinen darum, neue Impulse zu setzen. „Shutdown the logistics of capital“ scheint ein solcher Versuch zu sein, neue Angriffspunkte der kapitalistischen Gesellschaft zu erforschen. Dabei ist letzten Endes fast egal, ob diese Aktionsform funktionieren wird oder nicht, die Idee ist angekommen und in Zukunft werden sich Häfen, Speditionen, der Güter-Schienenverkehr und andere logistische Unternehmen sicher noch besser schützen müssen.

Generell darf nicht vergessen werden, dass G20 nur eine Plattform bietet, um einen Diskurs auch außerhalb der eigenen Strukturen zu führen. Kapitalismus jedoch existiert Tag für Tag für Tag. Und auch wenn das brennende Hamburg sicherlich Anlass für einige schöne Bilder sein wird, darf uns das nicht genügen. Wir wollen die ganze kapitalistische Welt brennen sehen!

Fußnoten

1 Aus dem Aufruf „Colour the red zone
2 Aus dem Aufruf „G20 Entern – Kapitalismus versenken
3 Das attac-Netzwerk spricht anlässlich eines Protests gegen das G20-Digitalministertreffen im April 2017 in Düsseldorf von „Hinterzimmer-Politik“ (Vgl. http://www.attac.de/index.php?id=394&tx_ttnews%5Btt_news%5D=9135).
4 Aus dem Aufruf „G20 Entern – Kapitalismus versenken
5 Aus dem Aufruf „G20 Entern – Kapitalismus versenken
6 Trotzdem: Es gibt Ausnahmen! Und es sind eben jene Ausnahmen, jene Differenzen, die in diesem Aufruf zu G20 für einen selbstbestimmten und inhaltlich verwertbaren Gegenprotest fruchtbar gemacht werden sollen.
7 Vgl. Report Mainz: Wie sich die autonome Szene im Netz radikalisiert
8 Womöglich lohnt es sich, nach G20 eine Analyse zu derartigen Videos und Inhalten und den damit einhergehenden Problematiken zu verfassen, doch implizit sollte eigentlich allen Anarchist*innen klar sein, was hier das Problem ist. Gemeint sind Videos wie die des Revolutionären Aufbaus: G20 – Nieder mit der Weltordnung des Kapitals!.
9 Eine solche Ausnahme, bei der auch die Vermittlung der Botschaft trotz Pyrotechnik und Vermummung, Gruppenfotos und Flash-Mobs weniger exklusiv stattzufinden scheint – womöglich liegt das daran, dass hier das Bild des männlichen Steineschmeißers ebenso aufgebrochen wird, wie die vermeintliche Vermittlung der eigenen Stärke durch Gruppenfotos, wenn mit Konfettikanonen um sich geschossen wird – ist das Mobi-Video der Gruppe GROW zu „Shut down the logistics of capital“ (Vgl. https://shutdown-hamburg.org/index.php/2017/06/27/shut-down-the-logistics-auf-capital/).
10 Die gängigen, in der Öffentlichkeit als männlich* dominiert wahrgenommenen, Verhältnisse von kapitalismuskritischem Protest zu durchbrechen, ist auch ein Anliegen der „Queer-Feministischen Organisierung Gegen den G20-Gipfel„, die mit ihrem FLTI*-Block explizit auch den Protest von FLTI*-Personen sichtbar machen wollen. Dagegen bleiben die fast schon obligatorischen Bekenntnisse der radikalen Linken zum „Feminismus“ dann doch eher wirkungslos!
11 Zitat aus dem Aufruf „Nein zum Gipfel des Kapitals“ des Internationalistischen Blocks. Online zu finden unter https://internationalisten.wordpress.com/. Bündnispartner*innen des Internationalistischen Blocks sind neben „BDS Berlin“ auch weitere Gruppen, die sich Israelbezogenen Antisemitismus zur Hauptaufgabe gemacht haben: F.O.R. Palestine (For One state and Return in Palestine), das Palästinakomitee Stuttgart und das Demokratische Komitee Palästina!
12 Zu finden unter der Adresse https://shutdown-hamburg.org/.